Verneig dich vor dem Tod
der
dominus,
Bruder Willibrod, der Eadulf das Tor der Abtei öffnete, nachdem dieser am Glockenstrang gezogen hatte. Dankbar glitt Eadulf von seinem Maultier und streckte die schmerzenden Glieder.
»Gott sei gelobt, daß du heil zurückgekehrt bist, Bruder Eadulf«, begann der
dominus
sofort, und sein eines dunkles Auge blinzelte heftig. »Heute früh bist du aufgebrochen, und jetzt ist es schon spät. Wir haben befürchtet, daß dir ein Unfall zugestoßen wäre oder noch Schlimmeres …«
»Noch Schlimmeres?« wiederholte Eadulf.
»Aldheres Geächtete treiben sich im Moorland herum, wie du weißt. Der Abt kam nach der Mittagsglocke zurück, er hatte es aufgegeben, sie zu suchen. Er sagte, du hättest ihn nicht eingeholt, und zürnte mit mir, weil ich dich hatte gehen lassen.«
Eadulf bemühte sich, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen.
»Wie du siehst, Bruder Willibrod, bin ich heil wieder hier.«
Bruder Willibrod winkte einen vorbeikommenden Mönch heran und gab ihm die Anweisung, Eadulfs Maultier abzusatteln, zu füttern und zu tränken. Eadulf ging über den Haupthof. Zu seiner Überraschung eilte ihm der
dominus
nach. Eadulf hatte den Eindruck, er sei nicht nur wegen Eadulfs später Rückkehr besorgt. Anscheinend suchte der
dominus
nach den richtigen Worten, sein Thema anzusprechen. Zuerst wollte Eadulf es ihm nicht erleichtern, doch dann erfaßte ihn Mitleid. Als sie die andere Seite des Hofes erreicht hatten, fragte Eadulf: »Hast du etwas auf dem Herzen, Bruder?«
»Etwas Seltsames hat sich ereignet, Bruder Eadulf.«
»Etwas Seltsames?«
Die Besorgnis im Ton des
dominus
war unverkennbar. Plötzlich kam Eadulf ein Gedanke.
»Schwester Fidelma … Ihre Krankheit hat sich doch nicht verschlimmert?«
Zu seiner Erleichterung schüttelte Bruder Willibrod sofort den Kopf.
»Nein, ihre Krankheit hat sich nicht verschlimmert. Es ist der Bruder Redwald, der …«
Eadulf stutzte. »Wer ist Bruder Redwald?«
»Der junge Mann, der die Arbeiten im Gästehaus erledigt.«
»Ach ja, ich erinnere mich an ihn. Was ist mit ihm?«
»Er mußte in seine Zelle eingesperrt werden und ein starkes Getränk erhalten, damit er sich beruhigte.«
Eadulf wartete noch einen Moment und seufzte dann erbittert.
»Um Himmels willen! Muß ich denn die Geschichte Satz für Satz aus dir herausholen? Du bist anscheinend erregt wegen etwas, das Bruder Redwald passiert ist, obgleich ich nicht weiß, was das mit mir zu tun hat, und es geht mich wohl auch nichts an, wenn du mir nicht erklärst, wieso.«
»Setz dich einen Augenblick, Bruder«, sagte der
dominus
und wies auf eine Steinbank, »dann erzähl ich’s dir.«
Eadulf verbarg seinen Ärger, wurde zu der Bank geführt und setzte sich hin. Bruder Willibrod ließ sich neben ihm nieder. Sein Gesicht wurde von der flackernden Sturmlaterne über ihnen erhellt. Es bot einen unheimlichen Anblick.
»Es ereignete sich gleich nach Anbruch der Dunkelheit«,begann er. Als Eadulf stöhnte, streckte Bruder Willibrod die Hand aus. »Geduld, Bruder. Redwald ist krank und zu seinem eigenen Schutz eingeschlossen. Sein Geist ist völlig verstört.«
Eadulf bezwang sich. Der
dominus
fuhr fort.
»Redwald ging in das Zimmer von Schwester Fidelma, um zu sehen, ob sie etwas brauchte. Am Bett deiner Gefährtin sah Bruder Redwald eine Frau stehen. Bruder Redwald erkannte sie.«
Bruder Willibrod legte eine dramatische Pause ein.
»Und wer war die Person, die Bruder Redwald erkannte?« fragte Eadulf müde.
»Redwald kam in unsere Gemeinschaft, als Abt Cilds Frau Gélgeis noch am Leben war. Redwald erkannte diese Frau – es war Gélgeis oder der Schatten von Gélgeis. Er wurde irre vor Furcht, weil er wußte, daß sie tot ist. Aber dort stand sie, blaß, aber sonst wie zu ihren Lebzeiten. Sie streckte eine Hand nach ihm aus, und er rannte schreiend aus dem Zimmer. Wir konnten uns seine Worte kaum zusammenreimen …«
Eadulf fühlte, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief. Er erinnerte sich an die Frau, die er am Abend zuvor nahe der Kapelle gesehen hatte, und daran, wie jeder darauf reagiert hatte.
»Diese … diese Erscheinung stand in Fidelmas Zimmer?«
»Ja.«
»Aber du sagtest, ihr ginge es gut?« Eadulf erhob sich hastig.
»Sie lag im Fieberschlaf, wir konnten sie nicht wecken, als wir den Fall untersuchten. Von der Frau fanden wir keine Spur.«
Eadulf wollte fort. »Sicher willst du dich um Bruder Redwald kümmern, aber ich möchte nun auch sehen, ob Schwester Fidelma durch diesen
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