Verneig dich vor dem Tod
geschieht.«
Der Junge sah nun weniger verängstigt aus, wirkte aber auch nicht eben mutig. Doch mit weiterem gutem Zureden holte Eadulf die Geschichte aus ihm heraus. Sie entsprach im wesentlichen dem, was ihm Bruder Willibrod berichtet hatte.
»Ich ging zum Gästezimmer, um zu sehen, ob ich etwas für die irische Schwester tun könnte«, gestand er. »Ich hatte auch schon mal solch einen Schüttelfrost …«
»Also du gingst in das Zimmer. Und dann?« lockte ihn Eadulf weiter.
Redwald hob ihm ein schreckverzerrtes Gesicht entgegen.
»Dann sah ich sie!«
»Weiter. Wer war die Frau, die dir solchen Schreck einjagte?«
»Es war Lady Gélgeis. Ich schwöre es. Als ich in die Abtei kam, war sie noch am Leben. Ich weiß, wie sie aussah. Sie hat mich gepflegt, als ich den Schüttelfrost hatte. Deshalb wußte ich, daß ich versuchen sollte, der irischen Schwester zu helfen.«
»Ich verstehe.« Eadulf wartete geduldig, bis der Junge sich gesammelt hatte. »Und du dachtest also, Lady Gélgeis wäre im Zimmer bei Schwester Fidelma?«
Der Junge ließ sich nicht beirren. »Das habe ich nicht gedacht, ich habe sie gesehen. Als ich eintrat, beugte sie sich über Schwester Fidelma und wischte ihr die Stirn … Genau so, wie sie es auch mit mir immer gemacht hatte.«
»Beschreibe sie mir.«
»Sie ist jung und hübsch.«
»So? Und weiter? Wie sieht ihr Haar aus?«
»Sie hat rotes Haar, aber mehr golden als rot, und ihre Haut ist blaß, sehr blaß selbst im Kerzenlicht. Sie trug ein feines rotes Kleid mit Edelsteinen – glitzernden Edelsteinen. Ich stand da und … Und dann hob sie die Hand und sah mich an. Heilige Mutter Gottes! Ihr Gesicht sah genau so aus, wie ich es in Erinnerung hatte – aber sie ist tot, Bruder! Sie ist tot! Jeder sagt, sie ist tot. Also muß es doch so sein.«
»Beruhige dich, Redwald«, redete ihm Eadulf zu und tätschelte ihm die Schulter. »Erzähl mir einfach, was dann geschah. Sie schaute dich an. Hat sie etwas gesagt?«
»Verzeih mir, Bruder, aber ich schrie auf und floh aus dem Zimmer. Ich hatte keinen Gedanken mehr für die irische Schwester auf dem Bett. Ich rannte weg. Ich rannte zu Bruder Willibrod, und der bestand darauf, daß ich mit ihm zusammen in das Zimmer ging. Also kehrten wir dorthin zurück …«
»Was habt ihr vorgefunden?«
»Das Zimmer war leer bis auf die irische Schwester. Von Gélgeis keine Spur.«
»Was geschah weiter?«
»Ich erzählte Bruder Willibrod im einzelnen, was ich gesehen hatte. Er meinte, das müßte ich dem Abt berichten. Ich glaube, Abt Cild gefiel das gar nicht. Ich war mit den Nerven völlig fertig, und Willibrod verabreichte mir ein starkes Getränk, um mich zu beruhigen, und brachte mich hierher, damit ich mich ausruhen sollte. Mehr weiß ich nicht.«
Eadulf lehnte sich gegen die Wand und rieb sich die Nase.
»Als du zurückkamst, gab es wirklich keine Spur von der Frau, die du gesehen hattest?« fragte er schließlich.
»Woher denn? Es war doch eine Erscheinung, ein Geist.«
»Du bist überzeugt, daß es Lady Gélgeis war?«
»Es war niemand anders als Lady Gélgeis, so wie ich sie kannte. Sie ist mindestens ein Jahr schon tot.«
»Ich verstehe. Aber sag mir eins, Bruder Redwald: Hast du jemals die tote Lady Gélgeis gesehen?«
Der Junge runzelte die Stirn. »Es ist allgemein bekannt, daß ihr Leichnam niemals aus dem Moor geborgen wurde. Er ruht in einem Moorloch nicht weit von hier. Einige Brüder sagten, sie habe eines Abends allein auf dem Rückweg zur Abtei den Weg verfehlt und sei dort hineingeraten. Es ist ein gefährlicher Ort, und es sind schon mehrere Tiere an dieser Stelle im Moor versunken. Der Ort heißt Hob’s Mire.«
Eadulf überlegte. »Und er ist nicht weit von hier, sagst du?«
»Ja, es führt ein Weg zu einem kleinen Wäldchen, und dahinter erstreckt sich das Moor, und darin liegt Hob’s Mire.«
Eadulf unterdrückte ein Schaudern, denn plötzlich erinnerte er sich an das blau flackernde Licht, das er an genau der Stelle gesehen hatte, die der Junge beschrieb. Er spürte, wie seine Hand zitterte, und versuchte dem zornig Einhalt zu gebieten. Fidelma würde die Gedanken nicht billigen, die ihm jetzt durch den Kopf schossen. Er war in diesem Land aufgewachsen und hatte die alten Götter verehrt, war den alten Bräuchen gefolgt und erst in seinen Mannesjahren zum neuen Glauben übergetreten. Doch das heilige Wasser, mit dem ihn der irische Missionar, der ihn zum Christentum bekehrt hatte, taufte, war nicht stark
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