Verneig dich vor dem Tod
Zwischenträger und brachte Botschaften zur Abtei und zurück. Aber mein Vetter war nicht blöd. Er behielt solche Sachen für sich. Ich war nichts weiter als der Bote. Wie ich dir schon sagte, ich weiß nur, daß in der Abtei Gefahr lauerte.«
»Aber du mußt doch irgendeine Ahnung gehabt haben, was in der Abtei vor sich ging?« drängte ihn Eadulf. »Dein Vetter ist tot, Wiglaf, und ich will seine Mörder vor Gericht bringen.«
»Das verstehe ich ja. Ich glaube, du brauchst die Mauern der Abtei nicht zu verlassen, um seinen Mörder zu finden.«
»Meinst du damit, daß du den Abt für den Mörder deines Vetters hältst?«
»Abt Cild ist ein rücksichtsloser Mensch, und wenn er den Verdacht hatte, daß Botulf sich gegen ihn verschworen hätte …« Er schloß mit einem Achselzucken.
»Aber er muß doch gewußt haben, daß Botulf mit Aldhere in Verbindung stand? Das ist offenkundig.«
Wiglaf gab keine Antwort. Es war jetzt zu dunkel, um das Gesicht des anderen deutlich zu erkennen. Die Nacht würde finster werden, bewölkt, und weder Sterne noch Mond würden sich in der weißen Schneedecke spiegeln und so ein wenig Licht geben.
»Noch vor Tagesanbruch wird es wieder schneien«, bemerkte Wiglaf zerstreut. Dann setzte er hinzu: »Ich glaube nicht, daß Cild von Botulfs Verbindung zu Aldhere wußte.Das war nicht der Grund für ihre Feindschaft. Es gab da noch etwas anderes. Was es war, weiß ich nicht genau.«
»Bei dem Begräbnis gestern nacht behauptete Cild, er sei Botulfs enger Freund gewesen, und er beklagte seinen Tod. Meinst du, daß er damit log?«
Wiglaf beantwortete Eadulfs Frage mit einem Hohnlachen.
»Bist du sicher, daß du weiter nichts beisteuern kannst, was Licht in die Sache bringt?« drängte ihn Eadulf verzweifelt.
»Einen Rat gebe ich dir noch,
gerefa.
Das Sprichwort sagt, daß die Kutte noch keinen Mönch macht …«
Wiglaf brach ab. Eadulf sah, wie sich sein Körper spannte, als er über das flache Moorland starrte, und folgte seinem Blick.
Mehrere hundert Meter entfernt in dem dunklen schneebedeckten Moorland erhob sich ein seltsames schillerndes Leuchten. In seiner Mitte schien ein blaues Licht, das sich über ein Stück Land verbreitete und bald schwächer und bald heller flackerte. Eadulf spürte, daß ihn ein Schauer durchlief, und er bekreuzigte sich rasch.
Wiglaf bemerkte seine Geste und lachte laut auf.
»Du brauchst den Schutz des Allmächtigen nicht anzurufen,
gerefa «
, spottete er. »Das ist bloß …«
»Ich weiß, was es ist«, fauchte Eadulf ärgerlich. »
Ignis fatuus
…«
»Ja, ein Irrlicht. Wir nennen es Feuerdrache.«
»Ich sagte schon, ich weiß, was es ist. Aber kannst du auch erklären,
woher
es kommt?«
»Die Moorlandbewohner erzählen viele Geschichten vom Feuerdrachen«, erwiderte Wiglaf. »Ich glaube keine davon.Sonst würde ich mich überhaupt nicht ins Moor wagen, geschweige denn mitten in der Nacht hindurchreiten. Schau mal, es ist schon wieder verschwunden.«
Eadulf erschauerte noch einmal und hätte sich beinahe wieder bekreuzigt, aber er wollte seinem Begleiter keine Gelegenheit geben, ihn auszulachen. In seiner Jugend nannte man das
ignis fatuus
Leichenfeuer, denn es hieß, der Geist unruhiger Toter erhebe sich als blaue Flamme und zeige sich denen, die ihnen zur Gerechtigkeit verhelfen sollten. Gerade zu dieser Zeit, zu Beginn des Julfests, erlaubten die Götter und Göttinnen den Geistern, denen Unrecht geschehen war, sich an den Lebenden zu rächen.
»Jedenfalls«, meinte Wiglaf, »wirst du von den Bäumen da vorn aus die Laterne sehen, die draußen am Tor der Abtei hängt. Nur noch ein kurzer Ritt. Hab Mut,
gerefa
!«
Eadulf öffnete den Mund, um den unverschämten Dieb zu schelten, aber Wiglaf hatte sein Pferd schon gewendet und trabte in der Dunkelheit davon.
Eadulf blickte wieder über das Moor, sah aber nichts mehr von dem schillernden blauen Licht. Ihm war unheimlich zumute, als er sein Maultier antrieb. Es schien zu spüren, daß sein Stall nahe war, denn es bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die ihn überraschte. Schnell erreichte er die Bäume und erblickte zuerst den Fluß und dann ein Stück weiter die dunklen Mauern der Abtei. Die Laterne flackerte am Tor. Er spürte, wie ihn eine Welle der Erleichterung überlief.
Es war noch früh am Abend. Wenn er die Zeit richtig schätzte, hatte noch nicht einmal die Glocke zum Angelusgebet geläutet, doch ihm schien es so kalt und dunkel, als wäre es Mitternacht.
Es war
Weitere Kostenlose Bücher