Verneig dich vor dem Tod
Art erst vor kurzer Zeit seine eigenen Gefühle gewesen waren, als er das
ignis fatuus
auf dem Moor tanzen sah. Um seine Verwirrung zu verbergen, wandte er sich wieder Fidelma zu.
Es gab keinen Zweifel, daß er auch eine Frau gesehen hatte, und zwar eine Frau, deren Beschreibung ihre Wirkung auf den Abt gehabt hatte. Welches Geheimnis steckte dahinter? Glaubte der Abt wirklich, ihn verfolge der Geist seiner toten Ehefrau? Die Frau, die Eadulf erblickt hatte, besaß eine körperliche Existenz. Sie war kein Schatten, dessen war er sich sicher.
»Ist Wasser heiß gemacht?« fragte er.
Der
dominus
wies wortlos auf das Feuer.
Eadulf ging zu dem siedenden Kessel und schöpfte mit einem Becher etwas Wasser heraus. Er beschäftigte sich damit, einen frischen Trank aus Kräutern zu bereiten, die er sorgfältig aus seinem Beutel auswählte. Der
dominus
beobachtete ihn mit wachsender Ungeduld. Schließlich sagte er: »Ich gehe zum Abt und erkläre ihm, daß du zurück bist und ihn aufsuchst, sobald du Schwester Fidelma die Medizin verabreicht hast.«
Eadulf machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten, und nahm seinen Abgang kaum wahr. Er mischte den Aufguß und trat an Fidelmas Bett.
»Fidelma«, flüsterte er.
Sie bewegte sich und stöhnte im Fieber.
Sanft schob er ihr die Hand unter den Kopf und hob ihn an, dann setzte er ihr den Becher mit der Medizin an die Lippen.
»Trink das. Es wird dir guttun. Nur ein paar Schluck.«
Er ließ die Flüssigkeit zwischen ihre Lippen rinnen. Fidelma schluckte unwillkürlich etwas davon, ohne zu erwachen oder die Augen zu öffnen.
Schließlich ließ er ihren Kopf wieder auf das Kissen sinken und stellte den Becher auf den Tisch.
Er befühlte ihre Stirn. Sie war heiß und feucht.
Es würde eine lange Nacht werden. Das Fieber mußte nachlassen. Inzwischen hatte er noch mit Abt Cild fertigzuwerden.
Er wandte sich zur Tür. Der stämmige Mönch stand wie vorhin davor. Er ließ Eadulf hinaus, sagte aber kein Wort. Nur seine Augen beobachteten Eadulf, aufmerksam, aber nicht unfreundlich.
»Wo finde ich Bruder Redwalds Zelle?« fragte ihn Eadulf. Er wollte nicht dem Abt gegenübertreten, ohne genau erfahren zu haben, was Redwald gesehen hatte.
Der große Wächter zeigte nur auf seinen Mund und schüttelte den Kopf. Eadulf begriff, daß der Mann nicht sprechen konnte. Ehe er noch reagieren konnte, nahm der Mönch seinen Arm und wies den Kreuzgang entlang. Dann hob er vier Finger.
»Die vierte Tür auf diesem Gang?« fragte Eadulf.
Der Mann nickte, ohne eine Miene zu verziehen.
Eadulf lief rasch in die angegebene Richtung und zählte die Türen an dem dunklen Gang. Vor der vierten Tür standen ein paar Mönche. Sie unterhielten sich leise. Unwillkürlich trat Eadulf in den Schatten zurück.
»Los, Bruder Wigstan«, rief einer der Mönche. »Es wird Zeit, die Glocke zum Abendessen zu läuten. Laß ihn in Ruhe. Er wird bald wieder zur Vernunft kommen.«
Eadulf sah, wie Bruder Wigstan aus der Tür trat und sich den anderen anschloß. Sie gingen zusammen fort, ihre Ledersandalen klappten auf dem Granitpflaster, dann verhallten ihre Schritte.
Eadulf wartete noch etwas, bevor er sich zur Tür bewegte. Zu seiner Überraschung war sie nicht verschlossen, sondern nur von außen verriegelt. Er öffnete sie und fand sich in einem kleinen, zellenartigen Raum wieder. Der junge Bruder Redwald saß auf dem Bett, die Arme über der Brust gekreuzt. Erschrocken blickte er auf.
»Schon gut«, flüsterte Eadulf und hob die Hand. »Ich will dir nichts tun. Ich muß mit dir darüber sprechen, was du gesehen hast.«
Der Junge schüttelte den Kopf. Seine Lippen zitterten.
»Es war ein Dämon. Das sage ich dir. Es war …« Er warf Eadulf wieder einen entsetzten Blick zu. »Der Abt sagt, die Irin hat den Dämon heraufbeschworen … Und sie ist deine Gefährtin!«
Er schob sich auf dem Bett zurück, weg von Eadulf.
Eadulf schüttelte den Kopf. »Ich will dir nichts antun, Redwald, und Fidelma will das auch nicht. Sie ist krank und kann ebensowenig Geister beschwören wie du. Schlag dir diese Vorstellung aus dem Kopf. Erzähl mir, was du gesehen hast. Beschreibe es mir.«
Der Junge schien sich etwas zu beruhigen.
»Es wäre ein großes Unrecht, wenn Schwester Fidelma die Schuld für etwas zugeschoben würde, wofür sie nicht verantwortlich ist«, beharrte Eadulf in sanftem Ton. »Duallein kannst die wahre Geschichte erzählen. Also sag’s mir, und ich verspreche dir, daß dir nichts
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