Verneig dich vor dem Tod
genug gewesen, sein Heidentum völlig von ihm abzuwaschen.
Der Geist von Gélgeis, den auch er an jenem ersten Abend bei der Kapelle gesehen hatte; die blaue Flamme, ob sie nun ein Feuerdrache war oder nicht; und jetzt die Geschichte, die Bruder Redwald erzählte: Das alles zog ihn zurück zu dem alten Glauben seines Volkes wie Fangarme, die nach ihm griffen und ihn in den düsteren Bereich der Religion zurückreißen wollten, der er entflohen war.
Entschlossen schob er das Kinn vor. Im Geiste hörte er Fidelmas tadelnde Worte: »Was ist das Übernatürliche weiter als das Natürliche, das nur noch nicht erklärt ist?«
Sobald er sich das sagte, begriff Eadulf, daß er wiederholte, was Fidelma gesagt hatte. Sie würde zweifellos so argumentieren: Wenn Leute mit klarem Verstand die Frau gesehen und sie als eine Frau erkannt hatten, die für tot galt, dann gab es zwei Möglichkeiten. Entweder war die Frau noch am Leben, oder aber jemand spielte ihre Rolle. Gespenster und Geister von Toten kamen in ihren Überlegungen nicht vor. So einfach war das. Doch dies war nicht ihr Land und ihre Kultur. Einen Moment empfand Eadulf sogar etwas wie Groll. Wie sollte Fidelma denn auch das lastende Unheil verstehen können, das in den dunklen angelsächsischen Wintern brütete? Aber dann kam ihm dieser Gedanke ungerecht vor.
Den Jungen schien er nicht überzeugt zu haben.
»Es ist Julzeit, Bruder. Weißt du noch, was das bedeutet?«
Er wußte es sehr gut. Während der zwölf Tage des Julfests kamen die heidnischen Götter der Angelsachsen Midgard am nächsten, der mittleren Welt, in der die Menschheit wohnte. Dann hatten die Toten die Freiheit, die aufzusuchen, die sie im Leben gekränkt hatten, und Trolleund Elfen wurden ausgesandt, die Übeltäter zu bestrafen. Eadulf fühlte sich schuldig, weil er überhaupt daran dachte, doch die Kultur, in der man aufgewachsen ist, legt man nicht so leicht ab. Er beugte sich vor und tätschelte dem Jungen wieder die Schulter.
»Hier gibt’s nichts Übernatürliches, mein Sohn«, erklärte er ihm zuversichtlich, obgleich er sich wie ein dreister Lügner vorkam, dem das anzusehen sein mußte. »Es gibt nur ein Geheimnis, das wir noch lüften werden. Halte an deinem Glauben fest und fühle dich im Schutz Christi sicher.«
Er ließ den Jungen in seiner Zelle zurück und ging wieder in den Haupthof. Von dort aus folgte er dem Weg, von dem er wußte, daß er zum Zimmer des Abts führte. Abt Cild erwartete ihn, hinter seinem Tisch sitzend, die Handflächen auf der Tischplatte und mit zornerfüllter Miene.
»Hast du nicht begriffen, daß du sofort nach deiner Rückkehr in die Abtei zu mir kommen solltest?« fragte er streitlustig.
»Ich hatte Dringenderes zu erledigen«, erwiderte Eadulf kühl und zeigte mit seiner Haltung, daß er sich von dem Abt nicht einschüchtern ließ.
Abt Cilds Miene wurde noch finsterer.
»Dein Mangel an Respekt ist mir schon aufgefallen, Bruder Eadulf. Du bist mir als Abt zum Gehorsam verpflichtet.«
»Ich habe noch andere Pflichten«, entgegnete Eadulf. »In erster Linie bin ich Erzbischof Theodor verpflichtet, deinem geistlichen Vorgesetzten. Er hat mich zu seinem Abgesandten ernannt, und ich darf in seinem Namen sprechen. Nur ihm habe ich zu gehorchen.«
Während er redete, hielt Eadulf verstohlen die Finger gekreuzt.Was er sagte, stimmte insofern, als das die Rolle war, die er im Auftrag Theodors bei König Colgú in Cashel gespielt hatte, aber jetzt nicht mehr. Eadulf nahm aber an, Cild würde es nicht offen bezweifeln und in Canterbury bei Erzbischof Theodor nachfragen lassen. Im übrigen nahm es Cild mit der Wahrheit auch nicht so genau. In ein paar Tagen, hoffte Eadulf, hätte er den Fall geklärt, und er beruhigte sein Gewissen mit einem alten Spruch seines Volkes, daß man nämlich mit der Falschheit weiter kommt als mit der Wahrheit, wenn man es mit einem Lügner zu tun hat, und eine solche Lüge verschwindet eines Tages, während nur die Wahrheit bestehen bleibt.
Abt Cild betrachtete ihn mit gemischten Gefühlen. An seiner Schläfe zuckte ein winziger Muskel, er preßte die Lippen zusammen.
»Behauptest du, eine höhere Autorität zu besitzen als ich?« fragte er drohend.
»Ich weise dich nur darauf hin, daß du mir nichts zu befehlen hast, Cild«, fauchte Eadulf. »Schwester Fidelma ist krank. Das Fieber ist auf seinem Höhepunkt, entweder es geht zurück, oder sie ist in Gefahr. Ich werde sie diese Nacht pflegen. Also zieh deinen Wächter von
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