Verrat in Paris
dachte sie. Wie gut kenne ich dich eigentlich, Richard Wolf?
Aber im Moment war diese Frage irrelevant. Er war der Einzige, auf den sie zählen konnte, er war derjenige, dem sie vertrauen musste.
Sie verließ das Zimmer und folgte ihm.
»Hier sollten wir sicher sein. Zumindest für heute Nacht.«
Richard verriegelte die Tür zweimal und drehte sich zu ihr um.
Sie stand mitten im Wohnzimmer, mit verschränkten Armen, und war wie betäubt. Das war nicht die selbstbewusste, eigensinnige Beryl, die er kannte. Das war eine Frau, die gerade die Hölle erlebt hatte und wusste, dass es noch nicht vorbei war. Er wollte zu ihr gehen, sie in den Arm nehmen und ihr versprechen, dass sie in seiner Gegenwart sicher war. Aber sie beide wussten, dass er dieses Versprechen eventuell nicht würde halten können. Schweigend ging er durch die Wohnung, überprüfte, ob alle Fenster verriegelt waren und die Vorhänge geschlossen. Ein Blick nach draußen verriet ihm, dass zwei Männer das Gebäude bewachten, einer am vorderen und einer am hinteren Eingang. Unsere Absicherung, dachte er. Falls meine Aufmerksamkeit nicht ausreicht. Und sie
würde
nicht ausreichen. Denn früher oder später würde auch er schlafen müssen.
Nachdem er sich überzeugt hatte, dass alle Fenster und Türen versperrt waren, ging er zurück ins Wohnzimmer. Beryl saß auf der Couch und war sehr schweigsam, ganz still. Sie wirkte beinahe … besiegt.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern, als ob diese Frage keine Rolle spielte – als ob sie sich auf wichtigere Dinge konzentrieren sollten.
Er zog seine Jacke aus und warf sie über einen Sessel.
»Du hast noch nichts gegessen. In der Küche steht was.«
Ihr Blick ruhte auf seinem Schulterhalfter. »Warum hast du Schluss gemacht?« fragte sie.
»Du meinst, mit der Firma?«
Sie nickte. »Als ich sah, wie du die Waffe hältst, ist mir plötzlich wieder eingefallen, was du früher gemacht hast.«
Er setzte sich neben sie. »Ich habe nie jemanden umgebracht, falls du das meinst.«
»Aber du wurdest dafür ausgebildet.«
»Zur Selbstverteidigung. Das ist nicht dasselbe wie Mord.«
Sie nickte bedächtig, als ob es ihr schwer falle, ihm zuzustimmen.
Er nahm die Glock aus dem Halfter und hielt sie ihr hin. Sie betrachtete sie mit unverhohlenem Abscheu.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte er. »Das ist eine halbautomatische Waffe. Neun-Millimeter-Geschosse, sechzehn Patronen pro Magazin. Für manche Leute ist diese Pistole ein Kunstwerk. Für mich ist sie so was wie die letzte Möglichkeit. Etwas, was ich hoffentlich nie benutzen muss.« Er legte die Pistole auf den Couchtisch. Sie verstärkte noch den Eindruck der Bedrohung. »Nimm sie mal in die Hand, wenn du willst. Sie ist nicht schwer.«
»Lieber nicht.« Beryl erschauderte und sah in die andere Richtung. »Ich habe keine Angst vor Waffen. Ich meine, ich hatte schon ein Gewehr in der Hand. Ich bin früher mit Onkel Hugh schießen gegangen – Tontauben schießen.«
»Das ist nicht ganz dasselbe.«
»Nein. Nicht ganz.«
»Du hast mich gefragt, warum ich aufgehört habe.« Er zeigte auf die Glock. »Das war ein Grund. Ich habe nie jemanden getötet, und ich will auch nie in die Situation kommen. Für mich war der Geheimdienst wie ein Spiel. Eine Herausforderung. Das Feindbild war klar – die Sowjets und die DDR. Aber heute …« Er nahm die Pistole und hielt sie nachdenklich in der Hand. »Die Welt hat sich verändert. Heute weiß man nicht mehr, wer der Feind ist. Und ich wusste, dass ich eines Tages die Grenze erreicht haben würde. Ich war schon kurz davor.«
»Die Grenze?«
»Mein Alter, weißt du. Mit vierzig reagiert man nicht mehr wie mit zweiundzwanzig. Ich rede mir ein, dass ich dafür wenigstens klüger geworden bin, aber in Wirklichkeit bin ich nur vorsichtiger. Und ich riskiere viel weniger.« Er sah sie an. »Egal, um wen es geht.«
Ihr Blick traf seinen. Als sie sich so ansahen, hatte er das Gefühl, dass er am liebsten draufloserzählen würde. Dass er am allerwenigsten ihr Leben riskieren wollte. Wann war aus dieser Sache mehr als nur ein Babysitterjob geworden, fragte er sich. Wann war es zu etwas ganz anderem geworden? Zu einer Mission, einer Obsession.
»Du machst mir Angst, Richard«, sagte sie. »Du meinst die Pistole.«
»Nein, dich. Weil ich so wenig über dich weiß. Weil du mir so viel verheimlichst.«
»Ich verspreche dir, dass ich ab jetzt ganz ehrlich zu dir bin.«
»Und dabei kommen dann
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