Verraten
überlegte, ob er Alex mit dem Knöchel seines Handgelenks am Kinn treffen könnte. Wenn er genügend Platz hätte, den Arm auszustrecken, könnte er sehr viel Kraft in den Schlag legen. Damit müsste er Alex ausschalten können. Mit einem knallharten, wohlgezielten Schlag.
Im nächsten Moment traf ihn ein Kopfstoß. Er kniff die Augen zu und verbiss sich die Schmerzen. Sein Kopf pochte wie verrückt. Er schwankte, hielt aber das Gleichgewicht. Gerade noch so.
»Denk gar nicht dran!«, brüllte Alex. »Was glaubst du wohl, wer du bist? Supermann? Schau dich doch mal an, Mann! Du siehst aus wie eine verkrüppelte Mumie! Glaubst du wirklich, du kannst noch irgendetwas ausrichten? Ich brech dir alle Knochen im Leib, wenn du mich nochmal so dämlich angaffst, du Idiot! Glaubst du vielleicht, ich bin blöd? Falsch gedacht, Mann!«
Sil hielt noch immer die Augen geschlossen. Er hatte genug Schmerzen gehabt. Fing an, Schmerz zu hassen. Wollte keine Schmerzen mehr haben. Versuchte, sich auf seinen Atem zu konzentrieren. Atmete ein. Atmete aus. Versuchte, den Schmerz mit dem Verstand zu überwinden. Ruhig zu werden. Öffnete die Augen wieder.
Alex′ Gesicht war dicht vor seinem. So nahe, dass er seinen Atem riechen und die roten Adern im Weiß seiner Augen erkennen konnte.
»Glaubst du vielleicht, ich hätte das alles nicht sorgfältig geplant?«, schrie Alex ihm ins Gesicht. »Wenn du mir was antust, bist du tot. Jetzt oder später.«
Sil schaute ihn fragend an.
»Ich habe einen Brief vorbereitet. Der geht in die Post, wenn ich nicht zurückkehre. Wenn mir etwas zustoßen sollte. Wenn du glaubst, mit mir dasselbe machen zu können wie mit den anderen. Und weißt du, an wen der Brief adressiert ist, du Idiot? An den höchsten Boss. Die da oben würden dich am liebsten in der Luft zerreißen. Und wenn du glaubst, mich verarschen zu können, dann wissen sie, wo sie dich finden können. Dich und deine Nutte mit ihrer großen Schnauze. Sie werden dir den Bauch aufschneiden und lachend zuschauen, wie du mit deinen Eingeweiden in den Händen abkratzt. Und als kleinen Vorgeschmack darfst du zuschauen, was sie mit deiner kleinen Nutte anstellen. Denk gut nach, Mann, denn das wird passieren, wenn du versuchst, mich zu verarschen!«
Sil sah, wie Alex anfing zu zittern. Wut und Adrenalin. Er erkannte den Zustand wieder. Laut schreien. Die schrecklichsten Drohungen ausstoßen. Einschüchterung. Das wirkte immer. Bei jedem.
Außer bei ihm.
»Du hast dich mit den falschen Leuten angelegt, Mann«, schrie Alex. »Und du solltest mich nicht unterschätzen.«
Worte, alles nur Worte, sagte sich Sil. Für ihn zählten nur Fakten. Wenn er diesem Kerl Geld gab, war er tot. Das war eine Tatsache. Ein Fakt.
Und da war noch etwas anderes. Etwas, was noch viel wichtiger war. Das Need-to-know-Prinzip. Wenn diese Witzfigur hier seine Informationen aus der Zeitung holen musste, wusste er gar nichts. Und er kannte garantiert nicht die großen Bosse. Sein Onkel war in Venlo umgekommen, und dort war niemand entscheidungsbefugt gewesen. Sie hatten ihn dort festgesetzt, weil sie entsprechende Instruktionen erhalten hatten. Von Anna wahrscheinlich oder von dem Riesentypen mit dem violetten Anzug. Alex war aus dem Gebäude in Venlo geflüchtet wie ein ängstlicher Hund. Er hatte keine Waffe bei sich gehabt. Er hatte sich wie ein Kunde verhalten oder wie ein Kurier. Nein, wie ein Zaungast. Vielleicht hatte sein Onkel ihn mitgenommen. Ihn bei Anna eingeführt. Schon möglich. Aber beim obersten Boss? Der saß in Russland in seiner schwer bewachten Villa, irgendwo hoch oben auf einem Berg. Die Wahrscheinlichkeit, dass Alex so jemanden kannte, war äußerst gering. Um nicht zu sagen: gleich null. Allerdings gab es noch ein kleines, loses Ende. Allmählich reifte in ihm ein Plan. Er musste versuchen, Aufschub herauszuschinden.
»Ich habe das Geld aufgeteilt«, behauptete er und versuchte, dabei ein verschlagenes Gesicht aufzusetzen. Was ihm nicht schwerfiel, denn er hatte Schmerzen und war todmüde. »Ich brauche Zeit, um an alles dranzukommen.«
Alex schnaubte verächtlich. »Wie viel Zeit?«
»So drei, vier Tage.«
Alex schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage«, sagte er. »Du kriegst einen Tag, mehr nicht.«
»Zwei«, erwiderte Sil schnell. Er brauchte mindestens zwei Tage, um seinen Plan auszuführen.
»Okay«, sagte Alex nach einer kurzen Pause. »Zwei Tage. Aber das eine verspreche ich dir: Wenn du nicht mit der Knete rüberkommst, bist
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