Verraten
Haltung, die ihr eigen zu sein schien.
»Komm rein«, sagte sie dann plötzlich.
Und schon verschwand sie um die Hausecke. Schockierende Nachrichten, ihren Mann betreffend, durften offenbar nicht im Vorgarten besprochen werden.
In der Küche wies Anna mit einem gereizten Nicken hinüber zum Esszimmertisch. Nervös setzte sich Alice. Anna nahm auf einem Stuhl ihr gegenüber Platz. Schaute sie mit unbewegter Miene an. Alice begriff, dass sie auf der Anklagebank saß.
»Du bist mit ihm im Bett gewesen«, sagte Anna unvermittelt.
Alice nickte nur, erleichtert darüber, dass sie es nicht hatte aussprechen müssen. Blickte hinunter auf ihre Schuhe.
»Paul betrügt mich mit einer Angestellten. Ist ja reizend.«
Die Frau beugte sich ein wenig nach vorn und schaute Alice mit durchdringendem Blick an. »Und warum kommst du hierher und reibst mir das unter die Nase?«
Alice zuckte mit den Schultern. »Ich wollte es dir nicht unter die Nase reiben. Ich war nur der Meinung, dass du es wissen solltest. Er macht das öfter. Auch mit anderen.«
»Woher weiß ich, dass du nicht lügst?«
»Ich habe keinen Grund zu lügen«, antwortete Alice tonlos. »Paul hat alles auf Video aufgenommen, du kannst ihn ruhig fragen. Er hat mir gedroht, das Band meinem Mann zu schicken, falls ich mit dir reden würde.«
Anna schaute sie reglos an.
»Mein Mann und ich haben Probleme«, fuhr Alice fort. »Deshalb macht es ohnehin nichts mehr aus.«
Annas Gesicht ähnelte einer Maske aus Granit. Sie zeigte keinerlei Gefühlsregung.
»Na ja. Jetzt weißt du es«, sagte Alice leise und stand auf. Es tat ihr jetzt schon leid, dass sie gekommen war. Ihr dämmerte allmählich, warum Paul sein Vergnügen bei anderen Frauen suchte.
Sie ging hinaus, stieg in ihren Wagen und fuhr rückwärts die Auffahrt hinunter auf die Hauptstraße. Sie konnte es nicht mehr ungeschehen machen: Sie hatte es getan. Ihretwegen konnte Paul ruhig sein Ekel erregendes Amateurvideo an Sil oder an die ganze Nachbarschaft schicken oder auch eine abendfüllende Veranstaltung im Gemeindezentrum damit gestalten. Es war ihr inzwischen egal.
Sie gelangte an eine Gabelung. Bremste. Fragte sich, wo sie hinsollte.
Nach Hause, wo Sil ihr traurig und gequält in die Augen schauen und ihr ausweichen würde, als habe sie die Pest, weil er mit dem Herzen bei dieser Susan war? Zurück ins Büro, wo es für sie nichts mehr zu tun gab? Oder zu einer ihrer Freundinnen, die sie schon so oft davor gewarnt hatten, dass sie einen Mann wie Sil nicht an sich würde binden können - und die samt und sonders darauf brannten, ihre Stelle einzunehmen? Bei ihren Eltern, die in Spanien wohnten, brauchte sie schon gar nicht anzuklopfen. Sil war so oft mit ihnen aneinandergeraten, dass sie zweifellos mit irgendeiner Wir-haben’s-dir-ja-gleich-gesagt-Tirade reagieren würden.
Alice saß bewegungslos hinter dem Steuer. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, doch sie merkte es nicht einmal. Ihr wurde klar, dass es niemanden gab, an den sie sich wenden konnte. Und das Schlimmste war: Sie konnte nicht einmal sich selbst helfen.
Durch ihre verweinten Augen schaute sie Schulkindern und Jugendlichen auf Fahrrädern hinterher, die an ihrem Auto vorbeifuhren. Sie nahm nicht wahr, wie die Kinder ihren alten Porsche bewunderten. Was sie sah - oder vielleicht auch nur glaubte zu sehen - waren ihre Blicke, der erwartungsvolle Glanz in ihren Augen, ihre jugendliche Arglosigkeit. Dasselbe blinde Vertrauen in die Zukunft, wie sie es selbst einst gehabt hatte, in jenen Jahren, als die Welt noch ein einziger großer Vergnügungspark zu sein schien. Als noch alles möglich war. Wenn man nur wirklich wollte und danach strebte.
Solange sie sich erinnern konnte, hatte es nur ein Ziel für sie gegeben, einen Endpunkt, den sie anstrebte: berühmt zu werden. Und sie war ihrem Ziel noch nie so nahe gewesen wie in den letzten Jahren bei Programs4You. Zugleich war sie noch nie so knallhart mit ihrem Versagen konfrontiert worden. Jeden Tag aufs Neue liefen, nein, rannten sie an ihr vorbei: Frauen, nicht selten zehn Jahre jünger als sie, die es im Gegensatz zu ihr geschafft hatten. Sie sah sie täglich, während diese Frauen sie wahrscheinlich nicht einmal wahrnahmen. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zu sehr von ihrem künstlich aufgeblasenen Selbstbild eingenommen, um andere Menschen in ihrer Umgebung zu bemerken. Für sie war sie einfach nur eine der Mitarbeiterinnen, eine kleine, graue Maus ohne jede
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