Verraten
auf gleicher Höhe mit dir läuft.«
»Läufst du auf gleicher Höhe mit mir, Sil?«
Er schwieg für einen Moment. Starrte an die Decke. Schließlich antwortete er, aber so leise, dass sie sich anstrengen musste, um ihn zu verstehen.
»Ich laufe schon seit einer ganzen Weile in meine eigene Richtung. Und ich habe verdammt oft nach rechts und links geschaut, aber keine Menschenseele gesehen. Irgendwann habe ich mich daran gewöhnt. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich wahrscheinlich bis ans Ende meiner Tage allein bleiben werde. Klingt das idiotisch?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ich habe mir versucht weiszumachen, dass es ganz in Ordnung sei, allein zu sein«, fuhr er fort. »Aber an dem Nachmittag, nachdem du bei mir warst, wurde mir klar, dass ich gar nicht allein sein wollte. Dass ich mir das die ganze Zeit nur eingeredet habe.«
»Und jetzt?«
Er schwieg für einen Moment. Dachte nach. »Ich will heute Abend erst mit Alice reden. Ich liebe sie, Susan, auf eine andere Art als dich, aber sie bedeutet mir wirklich viel. Ich will nicht, dass sie zusammenbricht. Ich will ihr helfen, so lange, wie es nötig ist, bis ich sicher bin, dass sie damit fertig wird. Bis sie in der Lage ist, auf eigenen Beinen zu stehen.« Er machte eine Pause. »Und danach werden wir schon sehen.«
Sie nickte. Plötzlich knurrte ihr laut der Magen.
»Essenszeit«, sagte er.
»Ich habe keinen Hunger.«
»Komm schon«, sagte er, drehte sich auf die Seite und schob sie von sich weg. »Essen ist eine wichtige Sache. Ein Grundbedürfnis. Damit ist nicht zu spaßen.«
»Ich habe aber nichts Vernünftiges im Haus«, erwiderte sie.
»Egal, komm, ich lade dich ein.«
»Gehen wir auf die Kaninchenjagd?«, fragte sie. »Soll ich schon mal ein Feuer machen? Oder ein paar Beeren sammeln?«
Seine Augen funkelten. Sie war wundervoll, wie sie ihn so herausforderte. Nackt. Offen. Kraftvoll. Mit Abstand die schönste Frau, die er kannte. Nicht schön im klassischen Sinn. Sie war rein. Unverfälscht. Er zog sie an sich.
»Auf jeden Fall sollten wir uns ein bisschen dafür anstrengen«, brummte er. »Und jetzt zieh dir etwas über deinen schönen Körper, sonst kommen wir heute nirgendwo mehr hin.«
Sie zogen sich an und gingen hinaus. Bogen links ab, in Richtung des belebten Zentrums. Es war frisch und der Himmel über den alten Gebäuden wolkenverhangen. Wind kam auf, und sie zitterte. Sie schmiegte sich an seine Lederjacke.
»Worauf hast du Appetit?«
»Wenn es denn unbedingt sein muss, will ich Hamburger essen.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Hamburger?«
»Ja«, sagte sie. »Dann sind wir umso schneller wieder zurück. Ich nehme an, dass du nicht über Nacht bleibst.«
»Nein«, antwortete er bedrückt. »Das geht leider nicht. Ich freue mich wirklich nicht darauf, Alice heute Abend unter die Augen treten zu müssen, das kannst du mir glauben.«
»Doch, das glaube ich dir. Ich habe Schuldgefühle ihr gegenüber.«
»Ach, Unsinn.«
Sie gingen die breite Hinthamerpromenade entlang, wo dichtes Gedränge herrschte. Es war kurz vor fünf, und die Leute hatten es nach ihrem Einkaufsbummel eilig, nach Hause zu kommen. Susan und Sil gingen gegen den Strom. Mütter mit Buggys und quengelnden Kleinkindern, Schulkinder auf Inlinern, kichernde Teenager, bauchfrei und mit tiefen Hüfthosen, Grüppchen von Marokkanern, ältere Damen in Wollmänteln und Strickhüten. An manchen Stellen wurden Lieferwagen ausgeladen; dort war es schwieriger, den Leuten auszuweichen.
Susan schaute zu Sil auf. Er blickte sich aufmerksam nach allen Seiten um und sagte kein Wort. Er achtete auf alles und jeden, als sei er ständig auf der Hut. Sie war da ganz anders. In der belebten Innenstadt richtete sie stets den Blick ins Leere und schaltete ihren Verstand aus, sodass die Menschen sich zu einer grauen Masse auflösten, die an ihr vorbeiströmte. Obwohl sie so vieles voneinander wussten, gab es noch eine Menge zu entdecken.
Fünf Minuten später gab Sil am Schalter von McDonald’s bei einer platinblonden Bedienung mit schwarz umrandeten Augen die Bestellung auf.
»Der Fischmäc wird Ihnen gleich an den Tisch gebracht«, sagte die Frau in breitem Brabanter Dialekt.
Sil schob das Tablett von der Theke herunter und ging damit zu einem leeren Tisch weiter hinten im Restaurant. Setzte sich mit dem Rücken zur Wand und stellte das Tablett ab. Susan nahm ihm gegenüber Platz.
»Fütterungszeit«, sagte er.
»Yep«, sagte sie und biss herzhaft in ihren
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