Verraten
wahrhaftig andere Sorgen.
Das konnte nur eines bedeuten.
»Sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist«, bat er fast unhörbar leise, während sein Blick weiterhin fieberhaft zwischen den beiden hin- und herhuschte.
»Sie war auf der Stelle tot«, sagte der Mann. »Die Kollegen vor Ort sind dabei, den Unfallhergang zu rekonstruieren. Wahrscheinlich ist sie viel zu schnell gefahren. Zeugen haben das bestätigt. Der Wagen wird von der Spurensicherung auf technische Defekte untersucht.«
Sil schlug die Hände vor das Gesicht. Stützte die Ellbogen auf die Knie.
Alles, was der Mann ihm sonst noch erzählte, rauschte wie in einem Albtraum an ihm vorbei. Er hörte, wie der Polizist mit monotoner Stimme auf ihn einredete und ihm Dinge erzählte, mit denen er nichts anfangen konnte und die er gar nicht wissen wollte.
Kurz darauf brachte er die beiden hinaus. Wie betäubt schloss er die Tür hinter ihnen und ging ins Schlafzimmer, um Trainingsanzug und Laufschuhe anzuziehen.
Zwei Stunden später lief er immer noch durch den lockeren Sand im Zeister Wald. Die Dunkelheit war hereingebrochen, und es regnete. Er war nass bis auf die Knochen. Er hörte die Vögel nicht, sah keine Passanten und achtete nicht auf die Golden Retriever und die Cockerspaniels, die schwanzwedelnd und bellend neben ihm herliefen. Die Endorphine, die sein Körper ausschütteten, bewirkten einen Rausch, in dem kein Platz mehr war für Schmerz.
11
Der Hörer wurde schon nach einmaligem Läuten abgehoben.
»Da?« , meldete sich eine helle Frauenstimme.
»Ich habe ihn gesehen.«
Es blieb still in der Leitung.
»Den Mann, der gesucht wird«, erklärte die Stimme am anderen Ende. »Ich weiß, wer er ist.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Ich war dabei. In Venlo.«
»Ich weiß nicht, was Sie wollen. Sie sind falsch verbunden.«
»Pri wsjom uwazhenii«, sagte der Mann rasch auf Russisch. »Bei allem Respekt. In Venlo wurden Iwan und Wladimir von dem Mann getötet, den Sie suchen. Es handelt sich mit fast hundertprozentiger Sicherheit um denselben Mann, der die Probleme in Rotterdam verursacht hat, mit Dmitrij und Andrej. Nochmals, ich war dabei, als das in Venlo passiert ist. Ich bin als Einziger davongekommen. Ich habe sein Gesicht gesehen und ihn später wiedererkannt. Ich kann herausfinden, wo er wohnt und wer er ist. Es dauert nicht länger als eine Woche.«
Es trat eine beredte Stille ein.
»Wer bist du?«
»Ljoscha. Wladimir war mein Onkel.«
Wieder trat eine Stille ein. »Warum weiß Roman nichts davon?«, fragte die Frau auf einmal.
»Weil ich nicht hätte dort sein dürfen. Wenn Roman gewusst hätte, dass ich dabei war, hätte Wladimir Probleme gekriegt.«
»Wladimir umer«, sagte die Frau. »Wladimir ist tot.«
»Stimmt«, sagte der Mann. »Aber Roman wollte mich nie bei irgendetwas mit dabeihaben. Warum sollte ich ihm helfen?«
Die Frau schwieg.
Der Mann hüstelte. »Ich hätte gern eine kleine Unkostenvergütung, und ich hielt es für sinnvoller, mich mit diesem Anliegen an Sie zu wenden und nicht an Roman.«
Erneutes Schweigen.
»Wir sollten uns treffen, Ljoscha«, sagte die Frau endlich.
»Kogda?«
»Komm unverzüglich zu mir.«
12
Sils Welt stand still. Wie betäubt saß er im Wohnzimmer und starrte ins Leere, nicht in der Lage, irgendetwas zu unternehmen. Der Tag war vergangen, es war Abend geworden, dann Nacht, und am nächsten Morgen ging die Sonne auf und tauchte den glatt geschorenen Rasen in ein fahles, rötliches Licht. Er musste irgendwann eingedöst sein, aber wann und für wie lange, konnte er nicht sagen.
Ihm wurde klar, dass gewisse Dinge erledigt werden mussten. Er stand vom Sofa auf und wankte wie ein Zombie ins Bad. Im Spiegel über dem Waschbecken schauten ihn zwei dunkel umrandete, hohle Augen in einem aschfahlen Gesicht mit Bartschatten an. Es war ihm egal, das Letzte, was ihn momentan interessierte, war sein Aussehen.
Er wusch sich, zog sich um und ging in sein Arbeitszimmer, wo er im Internet die Telefonnummer eines Bestattungsunternehmens heraussuchte. Er rief das erstbeste an, das er fand. Er registrierte halb im Unterbewusstsein, dass der Bestatter ihm verkündete, er könne noch heute Nachmittag bei ihm vorbeikommen.
Anschließend ging er in den Garten. Der strahlend blaue Himmel überraschte ihn. Die friedliche Atmosphäre draußen passte nicht zu seiner Stimmung. Vor ihm flatterten zwitschernde Spatzen auf, und er hörte eine Amsel singen. Er kniete sich an den Rand des
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