Verruchte Nächte - One Night with a Spy (03 Royal-Four)
weitere bleiche Strähne sich gelöst hatte. Ihr Haar weigerte sich einfach, ihre Rolle als hochwohlgeborene Dame mitzuspielen; es war eine letzte Erinnerung an die einfache Jilly Boots, die sie einst gewesen war.
Sie zwang das verdammte Ding wieder nach hinten, verwendete dafür ihr übliches Übermaß an Haarnadeln. Endlich war sie bereit, den überaus beängstigenden Herren zu begegnen, die sich uneingeladen in ihrem Salon versammelt
hatten. Sie presste die Fingerspitzen einen kurzen Moment lang an das Medaillon an ihrem Hals, dann wandte sie sich um und schritt ruhig aus ihrem Schlafzimmer.
Wohin Marcus im Hof der Kutschstation auch blickte, überall herrschte Chaos. Der unangekündigte Besuch des Prinzregenten hatte den Wirt beinahe in Ohnmacht fallen lassen; und die Bewohner des kleinen, unscheinbaren Dorfes schienen zu staunender Unfähigkeit verdammt. Überall herrschte Krach und Wahnsinn, während er versuchte, seine Hoheit wieder auf die Straße zu bringen, aber tief in seinem Innern war ein Ort der ausgesprochenen Stille.
Marcus Ramsay, Lord Dryden, wartete.
Von außen betrachtet schien er von seinen Pflichten, den Prinzregenten zu beschützen und dessen Reise von Kirkall Hall in Schottland nach Brighton, dem ausgewiesenen Lieblingsort zum Überwintern von George IV., überaus in Anspruch genommen. Er musste die neue Mätresse des Prinzregenten in seine Überlegungen einbeziehen, und es gab mehr Diener und Personal und königliche Günstlinge für die mitternächtlichen Raubzüge durch die Küche, als ein Mann jemals beschäftigen konnte, und doch gelang es Prinz George irgendwie, sie alle über die Maßen zu strapazieren.
Von Marcus’ Pflichten seinem Monarchen gegenüber einmal abgesehen, verharrte ein Teil von ihm in diesem stillen Augenblick starrer Erwartung.
Es schien ihm, als habe er sein ganzes Leben lang gewartet. Er war der zweite Sohn eines Marquis, ein kleiner Junge zu viel, als dass er mehr erwarten konnte als Ravencliff, den kleinen Landsitz aus der Mitgift seiner Mutter; er hatte seine Jugend mit der Frage zugebracht, was die Welt ihm sonst noch zu bieten hatte.
Er hatte Jahre in der Armee gedient, darauf gehofft, dort die Antwort auf seine Frage zu erhalten, aber der Kampf
bot ihm keinerlei Reiz außer dem unangenehmen der Gefahr. Marcus wollte nicht der Mann sein, der den Hügel einnahm; er wollte der Mann sein, der den einzunehmenden Hügel auswählte.
Seine Weitsicht übertraf diejenige seines Generals; es war, als könnte er das Schlachtfeld aus der Adlerperspektive sehen, als könnte er den Feind überlisten und auch seine eigenen Kommandeure. Er hatte darauf gewartet, dass sie sahen, was er sah, bis er nicht mehr länger zu warten vermochte. Er war entsetzt von der sinnlosen Verschwendung von Menschenleben durch die Kurzsichtigkeit jener Männer, die die Hügel auswählten.
Schließlich, als er es leid war, Tag für Tag sinnlos Menschenleben zu opfern, hatte er das Mahl seines Kommandeurs mit einem starken Brechmittel gewürzt und den Mann sein Unvermögen und seine Dickschädeligkeit auf der Latrine der Kompanie auskotzen lassen. Obwohl er nur Major war, hatte er mit List und Tücke das Kommando übernommen und seine Männer durch eine Schwachstelle in der Verteidigungslinie der französischen Armee marschieren lassen, die aus irgendeinem Grund nur er allein erkannt hatte.
Sie hatten den Hügel eingenommen, ohne einen einzigen Mann zu verlieren.
Er war angeklagt, vors Kriegsgericht gestellt und freigesprochen worden - denn niemand konnte wirklich beweisen, dass er getan hatte, was er getan hatte; auch vermochte niemand die Effektivität seiner Vorgehensweise zu leugnen. Er war mit einem Vermerk in seiner Akte aus der Armee entlassen worden - und mit dem verstohlenen, aber inbrünstigen Dank seiner Männer.
Am nächsten Tag war er von den Royal Four angesprochen worden. Ein blonder Riese war auf seiner Türschwelle erschienen und hatte ihm die Chance seines Lebens geboten.
Eines Tages.
Eines Tages würde er der Löwe sein, würde einen Platz einnehmen im Rat der Analysten und Spione, die die Zügel Englands in ihren Händen hielten - die Kobra, der Löwe, der Fuchs, der Falke. Männer, deren Loyalität zu England noch stärker war als ihre Loyalität gegenüber dem jeweiligen Monarchen und die über ihren Tod hinausging.
Eines Tages - aber nur, wenn sein jugendlicher und sehr lebendiger Mentor vor ihm sterben sollte.
Aber Marcus wünschte Dane Calwell nicht den
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