Verrückt bleiben
Erklärt hat mir niemand etwas, ich musste die Dinge allein herausfinden.
Vor nichts zurückschrecken, alles probieren! Es muss nicht gleich ein Tier sein. Leben Sie nach dem Lustprinzip. Kümmern Sie sich nicht darum, ob Ihre Bedürfnisse »normal« sind. Werden Sie schwul! Lassen Sie sich umoperieren! Machen Sie Blümchensex, Safer Sex, Analsex! Leben Sie zölibatär! Warum nicht? Stehen Sie zu Ihrer Perversion – natürlich, solange sie nicht gegen das Strafgesetzbuch verstößt. Integrieren Sie Haushaltsgeräte. Setzen Sie sich auf Ihre Waschmaschine. Betrügen Sie Ihren Mann, oder seien Sie ihm treu. Schauen Sie Pornos, oder lassen Sie es bleiben. Trinken Sie ein Glas Natursekt, oder machen Sie Tantra-Sex mit Yogi-Tee. Teilen Sie Ihr Bett mit Ihrer Katze. Ziehen Sie die Jalousien hoch, oder lassen Sie sie runter. Reisen Sie ins Reich der Sinne, oder bleiben Sie zu Hause. Machen Sie nicht, was die anderen gern hätten, fragen Sie sich, was Sie wollen. Finden Sie die Sexualität, die zu Ihnen passt. Viel Spaß beim Kopulieren – oder Sublimieren!
21. Blamieren
»Alte, peinliche Lebenserinnerungen, zwanghaft, wie oft. War nicht das ganze Leben peinlich.«
Thomas Mann, Tagebuch, 20. 9. 1953
In »Ein Fisch namens Wanda« tanzt John Cleese, russische Texte deklamierend, splitternackt, einen Balztanz für Wanda durchs Haus seines Bekannten. Da öffnet sich die Tür, und die neuen Besitzer des Hauses stehen vor ihm. Cleese greift nach dem nächstbesten Gegenstand, um sein Geschlechtsteil zu bedecken: Es ist ein Foto der Familie, die ihn gerade ertappt hat. Eine hochnotpeinliche Situation, blamabel für den Helden, saukomisch für uns. Eine Komödie.
Kipphardts März empfindet sein ganzes Leben als Blamage. Seine Hasenscharte ist der Mutter peinlich, sein Sprachfehler dem Vater, sein »unnormales« Verhalten der Gesellschaft. Es gibt nur einen Ausweg: er muss die Blamage, die er ist, beseitigen. Er muss sich töten. Eine Tragödie.
Wie aber ist es im wirklichen Leben?
Haben Sie schon mal in Hausschuhen das Haus verlassen, mit offenem Hosenstall, mit Milchbart? Haben Sie sich mal in einem Kreis, in dem Sie glänzen wollten, blamiert? Haben Sie einen Blackout, einen Heulkrampf, einen Sturz vor Publikum erlebt? War Ihnen das peinlich? Ist Ihnen das heute noch peinlich? Verfolgen bestimmte Szenen und Situationen Ihres Lebens Sie seit Jahren bis in die Träume? Erleben Sie auch diese Flashbacks, wo Ihnen das Blut in den Kopf schießt und Sie die Augen schließen im Nacherleben des von anderen sicher längst Vergessenen? O Mann, war das peinlich!
W. C. Fields, Laurel & Hardy und Mr. Bean haben die Blamage zum Konzept gemacht. Sie blamieren sich, stellvertretend für uns – und wir lachen darüber. Nehmen wir uns sie zum Vorbild. Sehen wir Blamagen nicht als Defizit, sehen wir sieals Talent! Sagen wir uns: Die Blamage ist eine Kunst, die ich vortrefflich beherrsche. Ich kann das tatsächlich von mir behaupten. Man kann fast sagen, ich bin eine Virtuosin auf dem Gebiet der Blamage. Rotzbollen an der Nase, Spinat zwischen den Zähnen, Rotweinränder an den Lippen, gegen Glastüren laufen, Leute nicht erkennen, Leute verwechseln, Leute für jemand anders halten und in stundenlange Diskussionen verwickeln. Einmal saß ich in einer Fernseh-Talkshow mit Lippenstift an der Nase. Niemand erinnert sich an das, was ich gesagt habe.
Es ist schon vorgekommen, dass ich auf eine Filmpremiere ging und einen Lockenwickler in den Haaren vergessen hatte oder einen Penaten-Pips auf einem Pickel oder ein Preisschild an einem neuen Mantel oder ein Reinigungsschild am alten. Als ich den Tanzstundenball eröffnen sollte, bin ich ausgeglitten und einige Meter auf dem Arsch gerutscht. Bei mir bleibt schon mal die Jacketkrone stecken, wenn ich in einen Apfel beiße, oder ich laufe über den roten Teppich mit Klopapier am Schuh. Ich ziehe versehentlich anderer Leute Jacke an, wenn ich ein Lokal verlasse, ich steige in falsche Autos ein, ich verspreche mich, ich verlaufe mich, ich versimse mich. Von den vielen Malen, wo ich gestolpert, ausgerutscht, in Tränen ausgebrochen bin, wollen wir hier gar nicht erst sprechen.
Im letzten Winter habe ich es fertiggebracht, auf offener Straße einen ganzen Rock zu verlieren. Ich habe mir als erwachsener Mensch schon dreimal in die Hose gepinkelt. Einmal war ich schon an der Wohnungstür, aber der Schlüssel klemmte – leider kam der Nachbar ebenfalls gerade nach Hause; einmal war ich im
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