Verrückt bleiben
Lektüre eines Buches über die Sexualität. Mit den Augen eines Fachmanns gesehen, ist alles hässlich. In der Vereinigung zweier menschlicher Wesen liegt eine Poesie, die diesem entgeht«, schreibt Julien Green in sein Tagebuch. Entgeht uns etwas Wesentliches? Warum ist die Sache mit dem Sex so schwierig? Wir geben uns doch solche Mühe. Heute klären alle ihre Kinder auf, kaum dass sie laufen können. In Schulen stehen Märchen von schwulen Königen und lesbischen Prinzessinnen auf dem Lehrplan. Im April 2009wurde einstimmig von allen Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses beschlossen, Diskriminierung und Gewalt gegen »Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen« zu bekämpfen. Ein lobenswerter Ansatz, aber schrecklich verwirrend, biologistisch definiert, redlich und auf hilflose Weise um Vollständigkeit bemüht. Niemand will niemandem auf den Schlips treten. Mehrheiten sollen nicht verschreckt, Minderheiten nicht diskriminiert werden. Sex ist anstrengend geworden, komplett enttabuisiert einerseits, überall am Grabbeltisch zu haben, merkwürdig verdachtsbeladen andererseits. Vielleicht hat das eine mit dem anderen zu tun.
Wir klicken uns beim Frühstück durch Youporn-Dot-Com, aber der ideale Partner ist ein nichtrauchender Vegetarier, der fettfreie Butter isst, alkoholfreies Bier trinkt und sich für die Ehe aufhebt. Wir sind keine sexuellen Wesen mehr, sondern heterosexuell oder homosexuell oder intergeschlechtlich oder sonst irgendwie. Diese Definitionslust hat etwas Abtörnendes. Mir ist es egal, ob ich lesbisch, bi oder hetero bin. Muss man darum so ein Geschiss machen? Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Oder doch nicht? Doch nach Gusto? Aber worauf habe ich denn Lust?
Das ist auch ein Problem. Wir haben das Gefühl dafür verloren, worauf wir Lust haben. Stattdessen bewerten wir die Sexualität der anderen. Daumen hoch, Daumen runter. Meist aber Daumen runter. Wir tun wahnsinnig hedonistisch, aber wenn die Hamburg-Mannheimer ihre Mitarbeiter mit einer Orgie belohnt, dann blasen wir empört die Backen auf.
Dieser ewige Kampf zwischen Erotik und Moral, mal gewinnt die eine, mal die andere. Und das alles nur, weil die Kirche die Sünde, weil die Gesellschaft die Schubladen erfunden hat. Dieser ewige Kampf zwischen Geist und Fleisch! Lobt ein Mann meinen Verstand, dann denke ich: Und was ist mit meinem Arsch? Lobt er meinen Arsch, denke ich: Und was ist mit meinem Verstand?
Bei den Tieren ist die Sache mit dem Sex leichter. Die denkennicht dauernd drüber nach. Der Pfau schlägt ein Rad, der Gorilla trommelt sich auf die Brust, die Nachtigall singt ein Lied – fertig ist die Laube. Und drüber thronen wir, die Krone der Schöpfung, und theoretisieren. Um Vermehrung geht es offenbar nicht mehr, Deutschland ist inzwischen das kinderärmste Land Europas, die Zweigeschlechtlichkeit ist technisch überwunden, Fortpflanzung kann heute genauso gut außerhalb des Körpers passieren. Männer werden weiblicher, Frauen werden männlicher, die Geschlechter nähern sich an und verknüpfen sich neu. Es gibt Patchworkfamilien, Lesben, die sich von Schwulen anknallen lassen, Adoptionen, In-Vitro-Fertilisationen, Leihmutterschaften und andere nichtsexuelle Zeugungsmöglichkeiten. Um Neugier geht es auch nicht mehr, weil kein Geheimnis mehr offen ist. Warum also haben wir überhaupt noch Sex? »Die Hochzeit des Figaro« singt uns die Antwort: »Trinken, ohne Durst zu haben, und jederzeit Liebe zu machen – nur das, meine liebe Dame, unterscheidet uns von den anderen Tieren.«
Na bitte, es ist also der Trieb. Es gibt so viele Facetten von Sex: Monogamie, Polygamie, Onanie, Platonie, Gerontophilie, Nekrophilie, Sadismus, Masochismus, Affären, Ménageà trois, Bäumchen-wechsle-dich, Gruppensex. In Luis Buñuels »Belle de Jour« arbeitet eine gelangweilte Ehefrau tagsüber im Puff, in Oliver Rihs’ »Schwarze Schafe« holt ein Enkel mit Analverkehr seine Omi aus dem Koma, in Alfred Hitchcocks »Vertigo« liebt der Held eine Tote, in Hal Ashbys »Harold and Maude« verliebt sich ein Junge in eine 80-jährige Frau, in Leontine Sagans »Mädchen in Uniform« eine Schülerin in eine Lehrerin, in Ang Lees »Brokeback Mountain« ein Cowboy in den anderen, in Craig Gillespies »Lars und die Frauen« ein Mann in eine Gummipuppe.
Anything goes. Es gibt nur noch eins, was schlimmer ist, als Sex zu wollen und keinen zu kriegen: Sex nicht zu wollen und doch welchen haben zu müssen.
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