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Verrückt bleiben

Verrückt bleiben

Titel: Verrückt bleiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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Linienbus, aber der stand im Stau; und einmal saß ich in der Münchener U-Bahn Richtung Flughafen – auf einem saugfähigen Polster. Als ich neulich in der Zeitung las, dass Gérard Depardieu im Flugzeug vor über hundert Mitreisenden in den Gang uriniert hatte, war ich regelrecht glücklich. Es war, als hätte er mit dieser Wasserstandsmeldung den ultimativen Beweis fürs Menschsein erbracht.Auch weltberühmte Blasen haben offenbar ihr Limit. Depardieu ist mein Pissbruder im Geiste.
    Wenn sich andere Menschen in Ihrer Gegenwart blamieren, sind Sie dann schadenfroh, erleichtert, dass es Ihnen nicht passiert, oder tut es Ihnen leid, versuchen Sie, diese Menschen zu beschützen? Rilkes Malte Laurids Brigge sieht einmal vor sich auf der Straße einen Mann, der ständig hüpft und stolpert. Aber immer wenn er die Stelle erreicht, wo der Mann gestolpert ist, ist da nichts, worüber man hätte stolpern können. Um den Mann, der offenbar an einem Tourette-Syndrom leidet, nicht zu blamieren, stolpert Brigge an derselben Stelle wie er. Er tut es mit großer Sorgfalt, er tut es, damit andere Passanten nicht auf das Problem des Mannes aufmerksam werden. Er gibt dem hüpfenden Mann die Würde zurück. Ich finde das einen sehr feinen Zug an ihm.
    In Billy Wilders Film »Manche mögen’s heiß« gesteht der als Frau verkleidete Jerry seinem Verehrer Osgood, dass er in Wahrheit gar keine Frau ist, und lüpft zum Beweis seine Perücke. Osgood lässt sich durch diesen Umstand von seiner Liebe nicht abbringen: »Well, nobody’s perfect!«
    Wer Mensch ist, dem ist nichts Menschliches fremd. Es gibt im Leben zwei Möglichkeiten: Blamagen zu vermeiden oder die eigene Peinlichkeitsgrenze radikal runterzuziehen. Das Fernsehen macht es uns ja vor: Je tiefer der Gürtel, desto tiefer die Gürtellinie. Andererseits: Man soll doch immer das Positive sehen. Warum soll man denn nicht auch Blamagen positiv sehen? Blamagen sind eine Art Überlebenstechnik, ein menschlich-allzumenschlicher Appell an die Imperfektion. Man wächst daran. Schreiben Sie die Peinlichkeiten Ihres Lebens auf einen Zettel und verbrennen Sie ihn. Die Angst davor, sich zu blamieren, ist eine starke Motivation, Dinge nicht zu tun. Wer diese Angst erkennt und ausschaltet, rutscht auf der nächsten Bananenschale geradewegs in den Siebten Himmel hinein.

22. Spuren hinterlassen
    Lasst alle Euch den Berg hinunterrollen,
    Ihr Kalten und Ihr falschen Seelenvollen!
    Vom Reif um Eure Herzen bleibt kein Rest!
    Holunderhimmel sind und Blumengassen!
    Adolf Endler

Jeder lebt weiter in anderer Leute Kopf. Jeder hat ein Lebenswerk, einen Nachlass: Ein Haus, ein Baum, ein Buch, ein Kind. Es ist überaus hilfreich, sich zu Lebzeiten bewusst zu machen, welche Spuren man hinterlassen wird.
    Hinterlassen Sie Spuren, auch, wenn es Fragmente, Irrtümer, Scherben sind. Ihre Spuren sind ein Angebot an die Welt, auch, wenn sie sich nun ohne Sie weiterdreht. Jemand wird davon angerührt, beeindruckt, inspiriert sein. Schreien Sie heraus, wer Sie sein wollten, wer Sie glauben zu sein, bewegen Sie sich in dieser Welt wie ein Elefant im Porzellanladen.
    Einen Tag nach seinem Tod hat Christoph Schlingensief auf Facebook meine Freundschaftsanfrage angenommen. Auch der Facebook-Account des von mir heimlich verehrten Filmkritikers Michael Althen ist noch aktiv. Sein letzter Eintrag stammt vom 25. Mai 2011 um 17:48 Uhr: »Michael Althen hat angegeben, dass Artur Linus sein Sohn ist.« Und darunter: »Moritz von Uslar und 5 anderen gefällt das.« Da war Althen schon knapp zwei Wochen tot.
    Welche Spuren hinterlassen wir in der Welt? Wer lebt uns fort? Wer beendet unsere Aufgabe? Wer blättert morgen in unserer Münzsammlung oder wirft sie weg? Was werden unsere Nachbarn, Kollegen, Verwandten über uns sagen, wenn wir tot sind? Was werden die Nachlebenden von uns finden? Kann uns das egal sein, sollte uns das nicht sogar egal sein? Oder sollten wir vielmehr wollen, dass es möglichst viele Spuren von uns gibt?
    Vor zwei Jahren habe ich die Tagebücher meiner Kindheitgelesen und verbrannt. Ich will nicht etwa Spuren vernichten, ich will sie vielmehr verdichten, will noch zu Lebzeiten aufräumen. Das ist nur begrenzt möglich, denn meine Briefe und E-Mails sind in alle Welt verstreut, überall laufen Menschen herum, die mich kannten oder zumindest glauben, mich gekannt zu haben. Manche waren sogar mit mir verheiratet.
    In einer Sammlung, die ich »Erzähl mir was von mir« nenne, befrage ich seit mehr als

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