Verrückte Lust
Offenbarung der seelisch Toten… das letzte Kapitel… im Buch der Bücher.
So tief war er in seine Gedanken versunken, daß er, als er den Kopf wandte und sie auf der Schwelle stehen sah, fast
ohnmächtig wurde.
Unter ihrem roten Kittel war sie nackt. Er hielt sie auf Armeslänge von sich ab und betrachtete sie lange und
aufmerksam.
»Warum siehst du mich so an?« keuchte sie, noch ganz außer Atem.
»Ich hab gerade daran gedacht, wie anders…«
»Willst du schon wieder damit anfangen?«
»Nein«, sagte er ruhig. »Ich will nicht darauf herumreiten, aber… Hildred, manchmal siehst du schrecklich aus, einfach schrecklich. Wenn du es darauf anlegst, kannst du schlimmer als eine Hure aussehen.« (Ihm fehlte der Mut, einfach zu sagen: »Wo bist du gewesen?« oder »Was hast du die ganze Zeit gemacht?«)
Sie ging ins Bad und kam gleich darauf mit einem
Fläschchen Olivenöl und einem Frottiertuch zurück. Sie gab ein paar Tropfen Öl auf ihre Handfläche und verrieb es auf ihrem Gesicht. Ein Zipfel des weichen, saugfähigen Tuchs nahm den Schmutz auf, der sich in ihren Poren festgesetzt hatte. Es sah aus wie der Lappen, mit dem ein Maler seine Pinsel abwischt.
»Hast du dir keine Sorgen um mich gemacht?« fragte sie.
»Natürlich hab ich das.«
»Natürlich! Wie du das sagst! Und kaum bin ich zurück, da sagst du mir, daß ich wie eine Hure aussehe… schlimmer als eine Hure.«
»Du weißt genau, daß ich dich nicht eine Hure genannt
habe«, sagte er.
»Es kommt aber auf dasselbe heraus. Du beschimpfst mich gern. Du bist nur glücklich, wenn du mich kritisieren kannst.«
»Laß uns nicht damit anfangen«, sagte er erschöpft. Am liebsten hätte er geschrien: »Zum Teufel mit diesem ganzen Mist! Ich will doch bloß wissen, ob du mich liebst! Liebst du mich?« Aber bevor er das hervorstoßen konnte, beschwichtigte sie ihn schon wieder mit ihrer tiefen, volltönenden Stimme.
Ihre Zunge war gewandt… zu gewandt. Das Beben ihrer
dunklen, üppigen Kadenzen durchpulste ihn wie das warme Blut ihrer Adern und weckte Gefühle, die sich wirr mit der Bedeutung ihrer Worte vermischten. Seine Gedanken drängten sich zusammen, sie waren dunkel und allzu zahlreich und durchdrangen die ihren, und sie hingen dort, hinter den Worten, jenem Schleier, den der leiseste Windhauch zerreißen konnte.
3
Da saß er, der miese kleine Trottel mit seinen goldenen Locken und den spitzen chinesischen Fingernägeln. Er war fast im Schaufenster, den Rücken zur Straße. Bemerkenswert, wie sehr er Johannes dem Täufer ähnelte. Wenn er aufstand und man ihn in ganzer Länge sah, verwandelte er sich auf einmal in einen Mastiff, einen von der intelligenten Sorte, der auf den Hinterbeinen gehen kann, wenn man es ihm mit ein paar
Stücken rohem Fleisch beigebracht hat. Er trug
gewohnheitsmäßig ein gelassenes Gesicht zur Schau. Entweder hatte er gerade gut gegessen, oder er würde gleich gut essen.
Eine orientalische Passivität. Ein See mit einer Oberfläche aus Glas, die Sprünge bekommen würde, wenn Wellen sie kräuseln wollten.
Vanyas breite Schultern und ihre hünenhafte Statur verbargen ihn fast. Seine Besorgtheit war komisch anzusehen. Er nahm ihre Hand und drückte seine feuchten Lippen darauf wie ein kleiner Hund, der die Hand seines Frauchens ableckt.
Über allem hing ein Geruch nach verdorbenem Essen.
»Iß, Vanya, iß!« beschwor er sie kriecherisch. »Iß, soviel du willst. Iß, bis du platzt!« Hildred übersah er höflich, und wenn er gezwungen war, sich an sie zu wenden, schmückte er seine Sätze mit so blumigen Unaufrichtigkeiten, daß sie ihn am liebsten erwürgt hätte. Er hatte die Angewohnheit, seine Oberlippe zurückzuziehen und die gelblichen Zähne lächelnd zu entblößen – eine äußerst abstoßende Zurschaustellung von Freundlichkeit. »Du siehst heute abend zauberhaft aus«, sagte er, »einfach zauberhaft«, und wandte sich ab, noch bevor er es ausgesprochen hatte.
Es gab ein wenig Aufregung, weil ein Dichter darauf bestand, sich Spaghetti in die Westentaschen zu stecken. Er befand sich im Endstadium der Betrunkenheit und bemühte sich, zwei Frauen bei Laune zu halten, die ihn mit Geierblicken
betrachteten. Unter ihren Pelzmänteln, die er hin und wieder zurückschlug, waren sie nackt. In den Winkeln seiner
blutunterlaufenen Augen klebte ein weißlicher Schmier, und seine Augenlider, an denen keine Wimpern mehr waren, sahen aus wie entzündetes Zahnfleisch. Wenn er grinste, erschienen
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