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Verrückte Lust

Verrückte Lust

Titel: Verrückte Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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in Gang. Jedes Partikel ihres geschmolzenen Wesens wurde von einer bebenden Verzückung geschüttelt.
    Gesprenkelte Worte betäubten sie mit giftiger Lust… Sie spürte, daß in allem, ob niedrig oder erhaben, eine ungestüme, vitale Kraft steckte, eine Bedeutung und eine Schönheit, von der jedes Kunstwerk, und sei es noch so großartig, nur eine schwache Ahnung geben konnte. »Ich will leben!« murmelte sie mit wilder Leidenschaft. »Ich will leben!«

    2

    Tony Bring saß allein in einem möblierten Zimmer, dessen Fenster auf den Hafen gingen. Es war Mitternacht. Das
    bedeutete, daß er zwei Stunden oder länger in ein und
    demselben Kapitel gelesen hatte. Was darin stand, war sehr abstrus, eine Orgie pompöser Gelehrsamkeit. Er fühlte, daß er tiefer und tiefer sank, und einen Boden gab es nicht.
    Erst vor ein paar Tagen hatte sein Freund ihm diese
    sogenannte Morphologie der Geschichte in die Hand gedrückt.
    Und jetzt, dachte er, verrottete der Körper seines Freundes still unter einem von Rosen erstickten Hügel.
    Er fühlte sich bedrückt. Nicht nur, daß der Geist seines Freundes in den Seiten dieses Buches bewahrt war, nicht nur, daß die Bedeutung der Worte sein Begriffsvermögen überstieg
    – er konnte auch die Einsamkeit nicht mehr ertragen, die ihn überkam, wenn er dasaß und auf den Klang ihrer Schritte lauschte.
    Diese Einsamkeit suchte ihn nun schon seit einigen Wochen heim, zwar nicht jede Nacht, aber immer wieder und mit einer Häufigkeit, die an seinen Nerven zerrte. Unten, wo der Hafen sich zu einem breiten, tintigen Fleck weitete, war Frieden. Die genarbte Oberfläche des Wassers verband sich mit dem Mantel der Nacht und warf einen Schleier aus flüssiger Stille über die Erde. Als er den Vorhang beiseite schob, um hinaus in die Dunkelheit zu starren, überfiel ihn eine unerklärliche Angst.
    Wie zum erstenmal kam ihm der Gedanke, daß er ganz und gar allein war. »Jeder ist allein«, murmelte er, doch selbst als er es aussprach, schien es ihm, als sei er mehr allein als irgendein anderer.
    Wenigstens, sagte er sich (das hatte er sich schon mehrmals gesagt), hatte er nichts Bestimmtes zu befürchten. Tatsächlich?
    Je angestrengter er sich das versicherte, desto überzeugter war er, daß ihn ein finsteres Unheil belauerte, dessen Gegenwart und Bedrohlichkeit in diesen zarten, schattenhaften Vorboten zum Ausdruck kam. Der Gedanke, daß diese Prüfung vielleicht bald vorbei sein würde, bot keinen großen Trost. Die Frage war vielmehr, ob sie nicht bloß ein Vorspiel zu einer
    endgültigen, immerwährenden Einsamkeit war. Die
    Anspannung, die anfangs durchaus glaubwürdige ein oder zwei Stunden gedauert hatte, erstreckte sich nun über ganz und gar unvergleichliche Zeitspannen. Wie sollte man den
    himmelweiten Unterschied zwischen einer und fünf Stunden des Wartens bemessen? Was sagte das Verstreichen der Zeit, das von den langsamen Bewegungen der Uhrzeiger angezeigt wurde, über Probleme dieser Art aus?
    Aber es gab natürlich Erklärungen… Ja, Erklärungen gab es ohne Ende. Manchmal war die Luft blau von lauter
    Erklärungen. Und dennoch erklärten sie nichts. Schon die Tatsache, daß es Erklärungen gab, schrie nach einer Erklärung.
    Seine Gedanken verweilten bei der Vielschichtigkeit des Lebens in einer großen Stadt – einer herbstlichen Stadt –, wo eine geordnete Unordnung herrschte, eine verrückte
    Gerechtigkeit, eine kalte Gespaltenheit, die es dem einen gestattete, friedlich vor dem Kamin zu sitzen, während nur einen Steinwurf entfernt ein anderer brutal ermordet wurde.
    Eine Stadt, dachte er, ist wie ein Universum – jeder
    Häuserblock ist ein Sternennebel, jede Wohnung ein
    leuchtender Stern oder ein ausgebrannter Planet. Das warme, gesellige Leben, der Rauch und die Gebete, der Lärm und die Paraden, die ganze verdammte Darbietung kreiste um einen einzigen Mittelpunkt: die Angst. Wenn man seinen Nächsten lieben konnte, mochte man imstande sein, sich selbst zu achten; wenn man glauben konnte, mochte man imstande sein, Frieden zu erlangen – aber wie, wie denn nur, in diesem Universum aus Backsteinen, dieser Irrenanstalt voller
    Egoisten, dieser Atmosphäre voller Chaos, Streit, Angst und Gewalt? Dem Bewohner der herbstlichen Stadt blieb nur die Vision der großen Hure, Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden. Und sie werden die Hure hassen und werden sie einsam machen und bloß und werden ihr Fleisch essen und werden sie mit Feuer verbrennen. Das war die

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