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Verrückte Lust

Verrückte Lust

Titel: Verrückte Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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durfte, war ein Sieg der Erosion.
    So nahm der Konflikt auf verworrene Weise in seinen
    Gedanken Gestalt an. Seine Sprache war weit weniger
    kompliziert. Es war wie der Unterschied zwischen Noten und Musik. Was die Zunge von sich gab, war nur die leise Melodie, die das außergewöhnliche Gewebe von Gedanken und
    Gefühlen zusammenhielt.
    Während er weitersprach, wurde seine Stimme sanfter und schmeichelnder; ab und zu hielt er inne und erwartete, daß sie die Gelegenheit zu einem Einwurf ergreifen würde, doch sie schwieg, und ihre Feindseligkeit wich immer weiter von ihr. Er erinnerte sie kurz an eine Szene vor einigen Tagen, als Hildred sich mit ihr in dem kleinen Zimmer eingeschlossen hatte. Was war dort vor sich gegangen? Ach, was für eine Frage! Als erwartete er, daß sie sie beantworten würden. Immerhin gaben sie zu – nach einem schrecklichen Kampf, bei dem er ihnen dieses Geheimnis buchstäblich entrissen hatte –, daß sie sich da drinnen geküßt hatten! Aber es hatte keinen Zweck, dieses Thema weiter zu verfolgen. Vielleicht war es am besten, wenn man diesen Fall einer Jury übergab – einem unparteiischen Gremium von Experten. Sollte sich jeder selbst seinen Richter suchen. Sollte jeder seine eigene Version der Geschichte erzählen.
    An diesem Punkt erwachte Hildred plötzlich wieder zum
    Leben.
    »Du hältst deinen verdammten Mund!« brüllte er.
    »Nein, laß sie!« sagte Vanya. »Das geht sie genausoviel an wie uns.«
    »Sie ist vorhin weggelaufen und soll jetzt den Mund halten, sage ich. Bist du bereit, auf meinen Vorschlag einzugehen?«
    sagte er und kehrte Hildred den Rücken.
    Es war wie bei jenem kritischen Augenblick in einem Kampf, in dem einer der beiden Gegner plötzlich unter einem
    vernichtenden Schlag des anderen nachgibt. Er wollte sie auf den Knien sehen, aber wieder fuhr Hildred dazwischen. »Sie wird nichts dergleichen tun«, sagte sie und erhob sich mit einer Würde, nicht unähnlich der einer sterbenden Kaiserin, vom Bett. Es war ein durch und durch lächerlicher Vorschlag. Es gab keine Experten, die einen Richtspruch fällen konnten. Und außerdem…
    »Du willst sagen…?«
    »Ich will sagen, daß nichts, was irgendein anderer sagt, mich beeinflussen könnte.«
    »Selbst wenn…«
    »Selbst wenn die ganze Welt der Meinung wäre…«
    »Welcher Meinung?«
    »Daß sie abartig ist, pervers, invers – nenn es, wie du willst.
    Ganz egal, was andere sagen – ich würde sie nie verlassen…
    Hast du verstanden?«
    Es war genug. Es gibt einen Punkt, wo die Berührung durch die Realität so schmerzhaft wird, daß man kein Mensch mehr ist, der unter den Umständen leidet, sondern ein lebendes Wesen, das in Streifen geschnitten wird… Das, was eben noch wie ein lebendiger Planet war, eine pulsierende Herrlichkeit in einem Universum der Finsternis, ist plötzlich ein totes Ding wie der Mond, der mit eisigem Feuer brennt. In solchen Augenblicken bekommt alles eine Klarheit – die Bedeutung von Träumen, die Weisheit, die der Geburt vorausgeht, die Beständigkeit des Glaubens, die Idiotie einer Existenz als Gott, usw. usw.

    FÜNFTER TEIL

    1

    Tony Bring saß im Dunkeln, die Hände in den Manteltaschen vergraben, den Kragen hochgeschlagen, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Es war kalt in der Wohnung; er hatte das Gefühl, als säße er in einer Gruft, in der nicht einmal eine dünne Kerze brannte. Von den Wänden ging ein schlechter Geruch aus – ein süßlicher, Übelkeit erregender Gestank, der an Lepra denken ließ. Durch Tony Brings Kopf gurgelten Gedanken wie die Abflußröhrenmusik in Vanyas Zimmer. Er dachte an seine Gedanken, als wären sie Abstriche unter einem Mikroskop.
    Es klingelte. Laß es klingeln, dachte er, ich bin nicht zu Hause. Es klopfte am Fenster, und dann noch einmal,
    eindringlicher. Er stand auf und zog den Vorhang beiseite.
    Draußen stand sein Freund Dredge und grinste. Tony Bring ging durch die Eingangshalle und öffnete die große Haustür.
    Dredge grinste immer noch.
    »Was machst du da allein im Dunkeln?« fragte Dredge.
    »Ich hab bloß nachgedacht.«
    »Nachgedacht?«
    »Ja. Tust du das nicht auch manchmal?«
    »Mußt du denn dazu im Dunkeln sitzen?«
    Er zündete eine Kerze an, während Dredge sich in den Sessel fallen ließ, der am bequemsten aussah, und sein übliches schwaches, freundliches Lächeln aufsetzte. Es war sein achtundzwanzigster Geburtstag, und er hatte, bevor er sich auf den Weg zu seinem Freund gemacht hatte, zu Hause schon ein oder

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