Verrückte Zeit
Verzweifelt straffte er sich wieder und ging so dicht neben Lauren her, wie er konnte. Die Leute wichen ihr geflissentlich aus, so wie sie ihnen auswich, doch die Leute prallten gegen Corky, und er wurde gegen Lauren geschoben. Als sie einen Satz zur Seite machte, fing er sie am Ärmel auf, damit sie nicht fiel, doch dann spürte er, wie der Stoff des Regenmantels seinen Fingern entglitt. Er schuf sich mit Willenskraft eine Hand und ließ sie mit Willenskraft schnell wieder verschwinden, als sie rosa und sehr körperhaft sichtbar wurde. Dem Gedränge der vielen Menschen war er nicht gewachsen. Er wäre gern in einem Architekten gewesen, der schon weg war, um eine Frau in einer düsteren Bar zu treffen, mit ihr ein bißchen was zu trinken, dann zu Abend zu essen und dann mit zu ihr nach Hause und ins Bett zu gehen. Er wäre gern mit der Augenärztin nach Hause gegangen und mit der Sekretärin des Vorstands, und er hätte gern mit dem Finanzmakler die Zeitung gelesen … Er spannte den Muskel so wenig wie möglich an, und jetzt konnte er Laurens Mantel wieder spüren. Er hängte sich an die Kapuze an und ließ sich von ihr hinaus in die kühle, feuchte Abendluft ziehen.
Der Sicherheitsbedienstete und der FBI-Agent sahen ihr fasziniert nach, während sie davonsegelte und ihre Kapuze wie ein Brautschleier hinter ihr herflatterte. Der FBI-Agent stieß sich von der Wand ab und folgte ihr; der Sicherheitsbedienstete nahm seinen Platz neben dem Zeitungsstand wieder ein und grübelte über das Mysterium nach, daß Verrückte Verrückte behandelten.
Die Seattle Times hatte das Geschäfts- und Wohnviertel einige Jahre zuvor »Yuppie-Himmel« genannt, und der Name war sehr passend. Junge, gutverdienende Berufstätige in höheren Gefilden, künstliche Intelligenz, Computer, und alle mehr oder weniger neuen Erkenntnisse der Wissenschaft hatten sich hier niedergeschlagen. Hier gab es mehr Spielzeugläden pro Kopf als in jeder anderen Ansiedlung auf der Welt, so wurde behauptet. Mehr Geschäfte mit Videokassetten, ausgeflippter Kleidung – nicht für die jungen Wissenschaftler, die Jeans und T-Shirts und Turnschuhe bevorzugten, sondern vielmehr für jene, die an ihnen verdienten, die Allgemeinärzte und Augenärzte und Zahnärzte und Architekten und Rechtsanwälte. Es war eine gedeihliche Gemeinschaft. Eine Traube von Bürogebäuden bildete das Kernstück, und im Umkreis waren Läden, und darum herum die Wohnungen. Alles, was man benötigen oder sich wünschen könnte, konnte man im Bereich von zehn Häuserblocks bekommen. Delikatessenläden für höchste Ansprüche und einige der besten Restaurants der Westküste konnte man dort finden.
An diesem Abend ließ Lauren den ersten Block mit energischen Schritten hinter sich, dann wurde sie immer langsamer. Sie hielt an einem Zeitungskiosk an und erinnerte sich schließlich daran, daß sie jedes Lokalblatt, das zu bekommen war, kaufen wollte. Sie hielt beim Delikatessen-Laden an und kaufte sich ein tiefgefrorenes Abendessen, frisch am selben Tag zubereitet und haargenau für jemanden wie sie eingefroren – berufstätig, zu sehr beschäftigt, um Zeit fürs Kochen zu haben, anspruchsvoll in puncto Essen und doch erhaben darüber. Sie kaufte eine Flasche Wein, Wein aus dem Staat Washington, der Geheimtip unter Insidern, wie ihr der Geschäftsführer beinahe flüsternd verriet, als ob er ein wohlgehütetes Geheimnis preisgäbe. Sie ging weiter. Ihr nächster Halt war vor einem Laden, der Regenkleidung feilbot. Sie prüfte die Schirme und wählte schließlich einen großen, schwarzen mit einem gebogenen Griff, der wie Schildpatt aussah, in Wirklichkeit aber Plastik war. Sie ging weiter.
Hinter ihr ging der FBI-Mann und beobachtete sie aufmerksam, immer in der Erwartung, daß irgendeine Art von Kontaktaufnahme stattfände. Das war kein ernsthafter Einkaufsbummel. So viele Zeitungen – bestimmt war in einer davon eine verschlüsselte Botschaft enthalten. Dies war das typische Herumschlendern, das einer Kontaktaufnahme voranging, um die richtige Zeit und den richtigen Ort zu erfahren. Er schloß dichter auf.
Und Corky war der Verzweiflung nahe. Jedesmal, wenn sie einen Laden betrat, war seine Beherrschung über sich selbst in höchster Gefahr. Die Geschäfte waren eng, und es waren meist noch andere Kunden darin. So eine Szene wie im Aufzug durfte er auf keinen Fall noch einmal riskieren; er mußte jedesmal ein wenig von seiner Anspannung nachlassen, und jedesmal war es ein Glücksspiel.
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