Verrückte Zeit
umzubringen.
Langsam rückte sie von dem bleistiftförmigen Gegenstand ab, dann stand sie auf, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Warum lag er mitten im Zimmer? Sie sollte offenbar erfahren, daß sie beobachtet, abgehorcht wurde; wahrscheinlich war das ein Teil des Plans. Das bedeutete, daß eine Verschwörung im Gange war, nichts Geringeres, aber warum? Warum gegen sie? Wer war der rothaarige Mann? Warum war er so wichtig für sie? Sie wich rückwärts zur Tür zurück und hielt an, als sie gegen die Fensterbank prallte. Sie drehte sich blitzartig herum und öffnete das Fenster, dann rannte sie wieder zu dem Gerät, hob es vorsichtig auf und ging wieder quer durch den Raum, um es mit aller Wucht hinauszuschleudern. Sie knallte das Fenster zu und verriegelte es fest; anschließend bewegte sie sich eine ganze Zeitlang nicht mehr, sondern atmete nur noch tief durch und wartete darauf, daß sich ihr Herzschlag wieder beruhigte.
Als sie schließlich vom Fenster wegging, bewegte sie sich so leise, als ob sie nicht gehört werden wollte. Sie sah sich lauernd um, ohne genau zu wissen, was sie suchte. Vielleicht weitere Lauschvorrichtungen? Sie könnten in der ganzen Wohnung Wanzen versteckt haben, dachte sie, und wieder mußte sie tief Luft holen. Und sie könnten, dachte sie weiter, das gleiche in ihrem Büro gemacht haben. Sie ging in die Küche und öffnete das Paket, in dem ihr Abendessen war; verstört sah sie es an. Sie mußte etwas essen, sagte sie sich; also schaltete sie den Mikrowellenherd ein. Mechanisch bereitete sie einen Salat zu, holte das aus Hähnchen und Pilzen bestehende Menü aus dem Herd und befahl sich zu essen.
Sie mußte raus aus dieser Wohnung, dachte sie, und ihr fiel auf, daß sie tatsächlich seit ihrem Eintreten kein Geräusch verursacht hatte und sich fürchtete, irgendeinen Laut zu erzeugen. Sie mußte raus aus dieser Wohnung, dachte sie noch einmal. Sie mußte sichergehen, daß sie nicht verfolgt wurde, setzte sie ihren Gedanken fort, da sie sich wieder an den grünen Wagen erinnerte. Fast hätte sie gelacht. Wie?
Das Telefon klingelte; sie ließ die Gabel fallen, auf der der erste Bissen der Hähnchenbrust noch aufgespießt war. Beim vierten Klingeln sprach ihre eigene Stimme vom automatischen Anrufbeantworter: »Leider kann ich in diesem Moment nicht ans Telefon kommen. Beim Ertönen des Signaltons nennen Sie bitte Ihren Namen und hinterlassen Ihre Nummer, ich werde Sie dann sobald wie möglich zurückrufen. Vielen Dank.« Sie stellte fest, daß sie die Luft angehalten hatte, und atmete nun leise aus, während sie weiter lauschte. Dann hörte sie Morris Pitts sprechen, stark und angenehm und Vertrauen einflößend. Erleichtert schloß sie die Augen.
»Lauren, bitte, gehen Sie ans Telefon! Ich werde in fünf Minuten noch einmal anrufen. Bitte, sprechen Sie mit mir. Fünf Minuten!«
Morris! Er würde wissen, was sie am besten tun sollte. Es mußte doch ein Gesetz geben, dachte sie, unbescholtene Bürger mußten doch geschützt werden vor … vor wem oder was? Sie schob den Teller weg und stand auf; dann ging sie zum Telefon und betrachtete es voller Unbehagen. Jemand war in ihre Wohnung eingedrungen, ohne eine Spur zu hinterlassen, wurde ihr klar, und hatte ein Abhörgerät oder so etwas installiert. Warum? Wer? Und wenn Morris auftauchte, würden sie, wer immer sie sein mochten, ihn in ihre Lauschaktion mit einschließen. Das durfte nicht passieren, er war ein angesehener Rechtsanwalt. Wenn er in den ganzen Schlamassel, in den sie geraten war, mit hineingezogen würde, könnte das seiner Karriere abträglich sein, seiner Zukunft und ihrer Beziehung zueinander, falls die Chance bestand, daß sich so etwas je entwickeln könnte. Seine Blumen standen auf dem Tisch, ein Garten, der von Tag zu Tag größer wurde und ihre Wohnung mit seinem Duft erfüllte. In einer Stadt voller Fremder machte er sich Gedanken über sie, und sie mußte ihn vor Unannehmlichkeiten bewahren, wenn sie konnte. Sie streckte die Hand aus und schaltete den Klingelton am Anrufbeantworter ab.
Während ihr Finger noch den Knopf berührte, erstarrte sie. Falls auch irgendwo Kameras versteckt wären und jede ihrer Bewegungen beobachteten? Sie mußte sich ganz natürlich verhalten, um sie nicht zu warnen, daß sie vorhatte zu fliehen, um nachzudenken, sich auszuruhen. Von nun an war jede ihrer Bewegungen gestelzt und schlenkernd; sie bewegte sich wie eine Marionette. Sie ging zum Tisch zurück und betrachtete voller
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