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Verrückte Zeit

Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Wilhelm
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einem Hotel angemeldet? Sie schüttelte den Kopf. Doch die Tatsache, daß er dort wohnte, bedeutete nicht unbedingt, daß Corky in bezug auf ihn recht hatte. Ein Polizist aus einer anderen Stadt. Sein Haus war abgebrannt, und er mußte vorübergehend ins Hotel ziehen. Ein echter Colonel, doch nicht von der Armee, sondern von … einer FBI-Nachwuchs-Ausbildungsstätte oder so etwas. Überhaupt ein ganz anderer Mann.
    Langsam kam sie zu der Auffassung, daß niemand beweisen konnte, geistig normal zu sein, nicht wirklich. Geistige Gesundheit durch Übereinstimmung, in gegenseitigem Einvernehmen, durch öffentliche Abstimmung, Fernseh-Talkshow-Ansichten. Was sonst? Geistige Gesundheit bedeutete, sich entsprechend den von der Gesellschaft stillschweigend anerkannten Normen zu benehmen; nur das nach außen gerichtete Benehmen zählte. Im Innern konnte der Teufel brüllen und toben und seine Greueltaten begehen; solang das äußerliche Verhalten weiterhin in annehmbaren Bahnen verlief, wen kümmerte das andere, wer würde davon etwas erfahren?
    Geistige Gesundheit bedeutete angesammelte Schuld und ihre Tilgung und das Ansammeln neuer Schuld. Geistige Gesundheit bedeutete, eine grüne Schürze und Stützstrümpfe zu tragen und in einem Restaurant für drei Dollar fünfunddreißig in der Stunde zu arbeiten und die Kunden anzulächeln. Geistige Gesundheit bedeutete, daran zu glauben, daß alles besser würde, morgen, nächste Woche, nächstes Jahr. Geistige Gesundheit bedeutete, so zu tun, als ob im Innern kein wildes Tier brüllte und tobte, gequält und quälend. Geistige Gesundheit bedeutete, den Patienten gegenüber unnachgiebig zu sein und ihnen weiszumachen, daß es der eigenen Wertschätzung dient, von morgens bis abends am Fließband zu stehen und ein Dingsbums in ein anderes Dingsbums zu stecken, und es bedeutete, das eine verdammte Dingsbums in das andere verdammte Dingsbums zu stecken und jemanden um die Bestätigung zu bitten, daß es vollkommen seine Ordnung hatte, so etwas zu tun. Geistige Gesundheit bedeutete, zu studieren, um in der Lage zu sein, anderen Menschen beim Leugnen der Existenz des wilden Tieres zu helfen, und es bedeutete zu lernen, wie man seine Schreie und Ausbrüche von Zorn und Pein überhören konnte.
    Sie bedeutete, sich mit dem Verkehr in Stoßzeiten abzufinden, mit zu vielen Hupen und vergiftetem Essen und zu vielen Kriegen und Toten und Morden und damit, daß bewaffnete Menschen andere bewaffnete Menschen umbrachten und unbewaffnete Menschen ebenso, und mit Terroristen und noch mehr Terroristen, die gegen die Terroristen kämpften, und mit durch und durch verlogenen Politikern und der Kriegsmaschinerie, die immer weiterläuft, und dem Hunger im Schatten des Wohlstands und zu vielen Kindern und zu vielen Menschen und zu vielen vollgefressenen Kirchenherren, die allen anderen erzählten, was deren Pflicht sei, und allen Haßgefühlen eintrichterten gegenüber zu Dicken, zu Dünnen, zu Blonden, zu Dunklen, zu Großen, zu Kleinen, zu Alten, zu Jungen, und damit, daß die Menschheit eingeteilt wurde in Beherrschte und Herrschende, die behaupteten, daß das die Voraussetzung für ein gutes Leben und seelisches Wohlbefinden sei, und die Schuld und Schande auf alle jene herabbeschworen, die ein flatterhaftes Leben führten und Verhältnisse hatten …
    »Miss, sind Sie fertig?« Die Kellnerin mit der grünen Schürze knallte die Rechnung auf den Tisch, lächelte und watschelte davon.
    Lauren sah sich schuldbewußt um. Die Leute standen bereits Schlange und warteten auf freiwerdende Tische. Gehetzt wühlte sie nach dem Geld, um ihren Kaffee und Kuchen, von dem nur noch Brösel übriggeblieben waren, zu bezahlen. Und Trinkgeld, fiel ihr dann noch ein, o Gott, ein Trinkgeld, und sie fühlte sich noch schuldiger als zuvor.
    Nachdem sie das Café verlassen hatte, schlenderte sie langsam dahin; sie hatte es nicht eilig, in ihre Wohnung zurückzukehren, und sonst gab es keinen Ort, an den sie um diese Tageszeit hätte gehen können. Sie hatte keinerlei Pläne, absolut keine, sie war im Kreis herumgerannt und war wieder an der Startlinie angekommen. Ihr fiel auf, daß das ein Begriff aus dem Bereich des Pferderennens war, den er gebraucht hatte, und sie biß sich auf die Lippe. Der Nebel wurde immer regenähnlicher, immer noch sanft, nicht sehr kalt. Sie hielt den Kopf gesenkt und sah nichts.
    Sie hörte, wie jemand ihren Namen rief, und gleichzeitig spürte sie, wie sich eine Hand auf ihren Arm legte; als

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