Verrückte Zeit
an das Guckloch. Montag, nahm sie sich fest vor, am Montag würde sie wieder ins Büro gehen, mit all diesem Unfug aufhören und sich zusammenreißen. Seit wann hatte sie keine Lust mehr zu ihrer Arbeit? fragte sie sich. Sie hatte sich gewünscht, Psychologin zu werden. Sie erinnerte sich sehr genau, wie sie es angestrebt hatte, den Doktorgrad zu erlangen, ihr eigenes Büro zu haben, den Menschen zu helfen. Natürlich hatte sie sich ein höheres Gehalt versprochen, Anerkennung und Hochachtung, aber das alles würde schon noch kommen, davon war sie überzeugt gewesen. Sie wollte wirklich den Menschen helfen. Und die beste Art, ihnen zu helfen, führte sie ihren Gedanken unbarmherzig vor, war, sie in Ruhe zu lassen, verdammt noch mal. Sie könnte zwei Leben führen: sie könnte ein Büro haben, in das sich die Leute setzen durften, und nebenher könnte sie eine echte Arbeit machen. Wie zum Beispiel … sie sah sich um. In diesem Viertel war sie noch nie spazierengegangen; sie hatte die Gegend mit den hochgestochenen Boutiquen und Spielzeugläden, mit den Computer-Shops und Herrenausstattern verlassen. Hier gab es ein Geschäft für maritimen Bedarf mit einem Ausstellungsraum voller Boote. Auf der anderen Seite der Straße war ein Haus für Elektroartikel. Vielleicht könnte sie Boote verkaufen oder Glühbirnen ausprobieren. Sie kam zur nächsten Abzweigung und blieb stehen. Direkt vor ihr lag der Gebäudekomplex der CaCo, immer noch einige Blocks entfernt, aber alles andere überragend. Langsam drehte sie sich um und sah nach hinten. Und dort war das Bürogebäude, wo sie arbeitete. Wie die zwei Enden einer Hantel, die sich durch den Nebel anstarrten.
Schwungvoll bog sie nach rechts ab und schritt energischer durch die Seitenstraße, bis sie zur nächsten Ecke kam, wo sie wieder nach rechts abbog, zurück in Richtung ihrer Wohnung. Der Nebel war jetzt noch unangenehmer geworden, fast wie Regen. Sie öffnete den Schirm und ging mit großen Schritten weiter, ohne die Firmenniederlassungen, Handelsgesellschaften und Warendepots zu beachten. Vor ihr beherrschte das Bürohochhaus die Skyline.
Sie wollte doch noch in eine Buchhandlung gehen, erinnerte sie sich. Vielleicht drei oder vier Kriminalromane kaufen, etwas Unterhaltsames, nichts Anspruchsvolles. Offenbar konnte sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf etwas konzentrieren, nicht einmal auf ihre eigene Vergangenheit. Ihre Gedanken schweiften ständig ab, zurück zu den Dingen, die er gesagt hatte, zu den total verrückten Dingen, die er gesagt hatte, fügte sie hinzu; den Dingen, die sie getan hatten, den unglaublichen, zauberhaften Dingen, die sie getan hatten. So etwas wie eine Seele gibt es nicht, rief sie sich ins Gedächtnis. Nur ein Gehirn, ein Baustein unseres Körpers, Beton oder Ziegel? Glied. Sie unterdrückte ein Kichern und preßte die Lippen aufeinander, während sie ihren Gang noch mehr beschleunigte. Wie man sich bettet, so lügt man … Sie runzelte die Stirn, aber im Moment fiel ihr nicht ein, wie diese Binsenweisheit richtig lautete. Sie mußte ihren Patienten weismachen, daß es für sie das Beste sei, ein Dingsbums in ein anderes Dingsbums zu stecken, immer schön pünktlich und zuverlässig zu sein, ihre Arbeit ordentlich zu machen. Dem Frühaufsteher gehört die Welt. Morgenstund hat Gold im Mund. Ohne Fleiß kein Preis. Geld allein macht nicht glücklich. Das Gehirn ist ein fester Baustein … Alles, was sie wußte, hatte sie irgendwann einmal in sich aufgenommen. Gedächtnisstränge, Gedächtnisbahnen. Rennbahnen. Wenn Toler Harris in der Stadt weilte, mußte er in einem Hotel wohnen.
Sie blieb auf der Stelle stehen, und jemand, der das nicht tat, prallte von hinten auf sie. Sie nahm keine Notiz davon. Ein Hotel. Natürlich. Wenn er wirklich ein Polizist wäre, hätte er hier sein eigenes Zuhause; wenn er Colonel wäre, unterwegs für das Pentagon oder so, würde er in einem Hotel wohnen. Jetzt blickte sie in alle Richtungen, versuchte sich zu orientieren, herauszufinden, wo sie sich befand. Auf der anderen Straßenseite war ein Café, dort gab es bestimmt ein Telefon, ein Telefonbuch, heißen Kaffee, ein Stückchen Kuchen. Sie war im Begriff, die Straße zu überqueren; Hupen ertönten, und sie hielt verwirrt inne, erinnerte sich, daß es so etwas wie Verkehr gab, und ging zur nächsten Ecke, wartete, bis die Ampel auf Grün umsprang, und ging auf das Café zu.
Das Telefon befand sich vor der Damentoilette. Bei ihrem fünften Versuch nannte ihr
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