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Verrückte Zeit

Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Wilhelm
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sie aufblickte, sah sie Morris Pitts, der sie breit anlächelte.
    »Habe ich mich doch nicht getäuscht«, sagte er. Er zog sie einen Schritt oder zwei zurück, so daß sie unter einem Vordach standen, geschützt gegen den dünnen, durchdringenden Regen. »Gehen Sie nicht weg«, sagte er. »Bitte, gehen Sie nicht weg. Ich bin in einer Sekunde zurück.« Er sah mit seinen strahlenden dunkelblauen Augen tief in ihre Augen, dann drehte er sich um und trabte davon, quer über die Straße, im Zickzack durch den dichten Verkehr der mittäglichen Stoßzeit.
    Sie sah, wie er auf der anderen Straßenseite mit ernstem Gesicht mit einem grobschlächtigen Mann in einem grauen Regenmantel sprach. Der Mann schüttelte den Kopf, und Morris spreizte die Hände und zog sich zurück. Er ließ den Mann stehen, flitzte wieder über die Straße und kam wieder zu ihr. Jetzt ergriff er ihre Hand.
    »Ich habe ihm erzählt, daß Sie mir die Nachricht vom Tode meiner Großmutter überbracht hätten«, sagte er und grinste sie an. »Haben Sie ihn gesehen? Schweinsgesicht, mit Rüssel und allem. Lassen Sie uns gemeinsam blau machen, Sie und ich. Essen Sie mit mir zu Mittag, verbringen Sie den Nachmittag mit mir.«
    Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, schüttelte den Kopf, und er verstärkte seinen Griff; das Strahlen war jetzt aus seinem Gesicht gewichen, seine Augen waren überschattet.
    »Lauren, ich bitte Sie! Ich muß mit jemandem reden. Leute wie er, Schweinsgesicht, meine Partner, das ganze Theater … ich habe das Gefühl, es bringt mich um. Ich weiß, das hört sich übertrieben an, und Gott weiß, daß ich es zu niemand anderem sagen würde. Aber Sie … bitte, Lauren, ich brauche dringend Hilfe.«
    Eine Stunde später saßen sie im Restaurant des Jachtclubs mit Blick auf den Washington Lake. Segelboote schaukelten in der Ferne, leuchtende Segel hoben sich wie grellbunte Vögel gegen das trübe Wasser und den noch trüberen Himmel ab. Man war ihnen hier äußerst zuvorkommend begegnet; ihr Tisch sei reserviert, hatte der Kellner gesagt. Lauren hatte ihn daraufhin mißtrauisch angesehen, doch er hatte nur mit den Achseln gezuckt. »Er ist immer reserviert«, hatte er beinah entschuldigend gesagt.
    Und jetzt, als sie dort saßen, hatte sie das Gefühl, daß er es bedauerte, sie darum gebeten zu haben, daß er es sich anders überlegt hatte und nicht mehr reden wollte. Alles auf der Karte sei hervorragend, hatte er gesagt, und war danach in ein langes, bedrücktes Schweigen verfallen, während sie die vielen Seiten mit den verlockenden Speisen überflog. Schließlich legte sie die Karte aus der Hand.
    »Etwas Leichtes«, sagte sie.
    Der Kellner war erschienen wie herbeigezaubert. Morris schenkte ihm keinen Blick. »Gedünstete Forelle, Artischocken mit Knoblauchdip. Sagen Sie Eddie Bescheid, daß er sich um den Wein kümmert.«
    Der Kellner deutete eine Verbeugung an und entfernte sich, und endlich blickte Morris Lauren an, immer noch mit traurigen Augen. »Ich hoffe, Sie sind keine Weinfanatikerin, die sich mit allen Sorten genau auskennt und jede Lage unterscheiden kann, all dieser Unsinn.« Sie schüttelte den Kopf. »Gut. Das ist reine Zeitverschwendung. Die Qualitäten ändern sich nämlich dauernd. Dafür wird ein Getränkekellner bezahlt, daß er Bescheid weiß.« Er streckte die Hand über den Tisch und griff nach der ihren. »Es tut mir leid, es war unüberlegt von mir zu sagen, daß ich über meinen Job reden wollte, über mein Leben, die Welt an sich und alles. Das ist genau das, was Sie sich den ganzen Tag anhören müssen, die Beschwerden armer Seelen.«
    Sie zog ihre Hand zurück, jedoch sanft, und sagte ebenso sanft: »Die meisten Leute, die zu mir kommen, sind nicht Mitglieder in einem Jachtclub und besitzen keine hübschen Boote. Gehört eins davon Ihnen?« Sie blickte durch das große Fenster zu den vertäuten Booten hinaus.
    Er nickte. »Ich werde es Ihnen später zeigen. Schwieriges Mädchen. Als ich es ganz neu hatte, habe ich jede freie Stunde damit verbracht, sie zu pflegen, zu lackieren, polieren, glänzende Messingbeschläge anzubringen, all diesen Quatsch. Schwierig. Das erschien mir passend. Ich bin seit sechs Monaten nicht mit ihr draußen gewesen.«
    »Nun, im Gegensatz zu meinen Patienten könnten Sie alles hinwerfen, könnten nur noch das tun, was Ihnen Spaß macht. Warum tun Sie das nicht?«
    »Und was sollte ich dann tun?« fragte er trübsinnig. »Sie werden lachen, aber ich habe wirklich mit der

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