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Verrückte Zeit

Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Wilhelm
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eines Tages wurde ich wach und stellte fest, daß ich eine Verabredung zum Mittagessen mit Schweinsgesicht hatte. Wie geschieht so etwas, Lauren? Es war nicht das, was ich geplant oder gewollt oder erwartet hatte.«
    Lauren starrte an ihm vorbei zu den leuchtenden Booten, die sich mit den kräuseligen Wellen des grauen Wassers hoben und senkten. »Wenn mir jemand gesagt hätte, daß ich eines Tages Wanda Torrance einreden würde, daß sie zu nichts anderem taugte, als ein Dingsbums in ein anderes Dingsbums zu stecken, tagein, tagaus, dann hätte ich einen anderen Weg eingeschlagen. Verkauf, Werbung, etwas Mieses und Verwerfliches, von dem jeder wußte, daß es mies und verwerflich ist. Die Leute glauben, ich bin da, um ihnen zu helfen. Haha!«
    »Er möchte, daß ich ihm dazu verhelfe, sieben- oder achttausend bei seiner diesjährigen Einkommensteuerzahlung zu sparen. Und irgendwie bringe ich nicht die richtige Begeisterung für diese Arbeit auf, Lauren. Irgendwie scheint es mir scheißegal zu sein, ob er bei der Steuer spart oder nicht.«
    »Ich dachte, daß die Leute zu mir in Notsituationen kämen, vielleicht sogar mit Selbstmordabsichten, und daß ich mit wenigen Worten zum Kern ihres Problems vordringen würde, eine Lösung für sie finden könnte und sie mich anbeten würden.« Sie trank ihren Wein aus und merkte nicht, daß er ihr unverzüglich nachschenkte. Der Kellner brachte eine zweite Flasche.
    »Ich habe Witwen kennengelernt, die angeklagt waren, das Sozialamt betrogen zu haben, und ich habe sie vor einer Strafe bewahrt«, sagte Morris. »Ich habe herzzerreißende Plädoyers vor Gericht gehalten und sie freibekommen und sogar noch eine Erhöhung ihrer Bezüge erreicht, habe die Kinder vor dem Hungertod gerettet und all so etwas.«
    Sie nickte. »Ich habe sie auch gerettet. Vor Drogen, vor körperlicher Mißhandlung, vor einer Zukunft als Prostituierte.« Sie nahm einen tiefen Schluck. »Ach was, was soll das alles! Kommen Sie, wir wollen uns Ihr Boot ansehen.«
    Er hielt die Flasche hoch, die noch halb voll war, und nickte. »Ich glaube, ich könnte einen Kaffee vertragen. Sie auch?«
    »Ich denke schon.«
    Er leerte die Flasche, wobei er ihr den größten Teil einschenkte, und gab mit leicht erhobenem Finger dem Kellner ein Zeichen, der sofort wieder wie hergezaubert erschien. Morris bestellte eine Kanne Kaffee und zwei Cognac.
    »Das System taugt nichts«, sagte er düster und blickte zum Ufer. »Es erlaubt, daß Leute wie Schweinsgesicht Tausende beim Steuerzahlen sparen, während Witwen mit kleinen Kindern hungern müssen.« Er hob sein Glas, trank aber nicht. »Das Geld, das er zurückbehält, würde reichen, um sie aus der Armut herauszuholen und ihnen zu einem anständigen Leben zu verhelfen.« Er setzte das Glas wieder ab.
    »Geistige Gesundheit gegen geistige Krankheit«, murmelte Lauren. Dann sagte sie plötzlich: »Entschuldigen Sie mich bitte.« Sie stand auf und ging durch das leere Restaurant, entdeckte die Damentoilette und betrat sie. Direkt hinter der Tür blieb sie stehen, als ob sie Angst hätte, daß ihr jemand gefolgt sein könnte.
    Und jetzt? fragte sie sich. Und sie wußte keine Antwort darauf; sie wußte nur, daß etwas nicht stimmte, etwas an diesem ganzen Essen mit Morris, mit dem Wein, viel zuviel Wein für mittags, mit seinen unterdrückten Witwen und Waisen, denen er zum Recht verholfen hatte. Sie betrachtete sich im Spiegel; ihr Blick war an den Rändern des Gesichtsfeldes etwas verschwommen, und ihre Augen hatten etwas Wildes, und plötzlich sprach sie leise: »Er versucht, mich zu verführen.« Das Gesicht im Spiegel sah überrascht aus, dann nachdenklich, dann nickte es. Warum, fragte sie das Spiegelbild, und es wußte auch nicht mehr als sie. Ein weiterer Strich auf seiner Abschußliste? fragte sie sich. Eine neue Art der Eroberung, keine gefeierte Schönheit oder eine Dame der Gesellschaft oder eine Debütantin oder ein attraktives Mannequin, nur eine berufstätige Frau? War der Preis Anreiz genug? Weil sie die ganze Woche lang einer Verabredung ausgewichen war? Betrachtete er sie als Herausforderung? Zuletzt stellte sie sich die Frage, vor deren Antwort sie sich am meisten fürchtete: Mochte er sie? Er fand sie nicht komisch und unmäßig lang und ihre Füße nicht zu groß, aber mochte er sie wirklich? Ihre Lippen waren trocken, ihre Kehle war ausgedörrt; sie hatte das Gefühl, Fieber zu haben.
    Ohne den Blick von ihrem Spiegelbild zu wenden, das skeptisch

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