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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
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aufgekeimt: nicht die Hoffnung, er sei gestorben, sondern er könne überlebt haben.
    Aus der dunklen Stadt drang der trauervolle Ruf des Muezzins herüber, der erste von fünf Gebetsrufen an jedem Tag. Manar gemahnte er allerdings nicht an Gott, an den sie schon lange nicht mehr glaubte, sondern an dessen Verrat.
    Sie rückte ihr Kopftuch zurecht und zog den Stoff eng ums Gesicht – nicht aus Sittsamkeit, sondern damit man sie nicht erkannte. Dann wandte sie sich instinktiv nach Osten, gen Mekka, und ging die Straße hinunter.
     
    »Sie hassen dich, weil du keiner von ihnen bist«, hatte Rachida, die alte Witwe, die die Küche in Ain Chock leitete, zu Jamal gesagt. Er hatte bei ihr Trost gesucht, nachdem ihn andere Jungen besonders schlimm verprügelt hatten. »Ihre Mütter waren Huren«, hatte sie gezischt. »Deine aber war eine von den Verschwundenen.«
    Die Verschwundenen. Jamal hatte gehört, wie ältere Jungen im Waisenhaus das Wort verlegen flüsterten, und daraus geschlossen, dass es sich um eine Art Strafe handelte, die viel schlimmer war als der dünne Stock, den der Direktor in seinem Büro bereithielt. »Wohin verschwunden?«, wollte er wissen.
    Die alte Frau betupfte den Schnitt an seiner Wange mit Jod, und Jamal zwang sich, nicht zusammenzuzucken.
    »In die Wüste«, antwortete sie. Vor Jamals innerem Auge erschien ein Comicbild mit einer von Palmen beschatteten Oase und einer Herde träger Kamele.
    »Kann ich sie mal besuchen?«
    Rachida lachte freudlos. »Da, wo sie ist, würdest du sie nicht besuchen wollen.«
    »Doch, würde ich«, beharrte Jamal.
    Die alte Frau blieb fest. »Man geht nur in die Wüste, wenn man nicht mehr zurückkommen will«, sagte sie und machte sich an einem großen Topf Linsen zu schaffen, die auf dem Herd köchelten.
    »Was hat sie denn falsch gemacht?«, fragte Jamal. »Wer hat sie dorthin gebracht?«
    Rachida schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Du stellst zu viele Fragen«, entgegnete sie und schwenkte den hölzernen Kochlöffel. »Der König hat sie mitgenommen. Und jetzt ab mit dir.«
    Der König. Als Jamal später im stinkenden, dunklen Schlafsaal lag, musste er seinem Freund Nordine unbedingt erzählen, was Rachida gesagt hatte.
    Nordine, der ein Jahr älter und zehn Jahre weiser war, hatte nur gelacht. »Weshalb sollte der König deine Mutter in die Wüste bringen?«
    Die Frage war berechtigt, und Jamal wusste keine Antwort darauf. Er schüttelte nur den Kopf. »Das weiß ich nicht.«
    »Verschwunden oder tot«, sagte Nordine. »Wo ist denn da der Unterschied? Du bist noch hier, genau wie wir alle.«
    Für Jamal war es allerdings ein großer Unterschied, denn es bestätigte seine Vermutung: Er war anders als die Übrigen und gehörte nicht an diesen Ort.
    Nordine sagte er natürlich nichts davon. Als er die Augen schloss, sah er seine Mutter in einem prachtvollen Hochzeitsgewand, Brautkaftan und Kopfschmuck mit goldener Stickerei durchwirkt, die Hände aufwendig mit Henna bemalt. Also war sie keine Hure, sondern rein wie eine Jungfrau gewesen, das hatte er immer gewusst. Sie hielt die Augen gesenkt, um ihre Sittsamkeit zu bewahren, und ihre zarten Füße steckten in weißen Lederpantoffeln, mit denen sie über Teppiche aus feinster Wolle schritt, die man auf dem Sand ausgebreitet hatte.
     
    In seinem neuen Traum hob Jamals Mutter die Hand und winkte ihn zu sich. Ihre Finger und Handflächen waren mit filigranen Mustern bemalt, mit Wirbeln und Strudeln, die an fließendes Wasser oder die knorrigen Äste eines Baumes erinnerten. Das Henna schimmerte noch feucht auf ihrer Haut. Das dunkle, unbedeckte Haar fiel offen über Schultern und ihr weißes Brautkleid. Um sie herum erstreckte sich eine gewaltige Ebene, roter Sand und blauer Himmel. Die Sonne über ihnen brannte wie reines weißes Feuer.
    Jamal stieg hinab und ging auf sie zu, der rutschige Sand unter seinen Füßen hielt ihn auf. Daran würde er sich gewöhnen müssen, wenn er in der Wüste leben wollte. Er kam nur langsam voran, während sie rasch vor ihm herging, die Augen in die Ferne gerichtet.
    »Warte!«, rief Jamal.
    Ihr Kleid bestand aus weißem Leinen wie der Ihram eines Pilgers und war aus zwei Stücken Stoff zusammengefügt. Sie drehte sich um und lächelte ihn flüchtig an.
    »Bleib stehen!«, rief Jamal.
    »Beeil dich!«, erwiderte sie und bedeutete ihm erneut, ihr zu folgen. Sie roch nach Lotus und Regenwasser, wie die Erde aus dem Grab. Das enganliegende Leinentuch war fünfmal um den Körper

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