Verschärftes Verhör
runzlige Trauben. Mehrere Dosen mit Susans widerlichen Energy-Shakes. Und in der Tür Gläser mit eingelegtem Gemüse, Oliven und Senf, die größtenteils noch aus der Zeit vor der Diagnose stammten.
Er überlegte gerade, welcher Shake – Vanille, Schokolade oder Erdbeer – am wenigsten scheußlich wäre, als das Telefon klingelte.
Paul, dachte er. Panik stieg in ihm auf. Er wusste ohnehin nie, worüber er mit seinem Sohn reden sollte, und der Gedanke, ihm von Susans Tod zu erzählen, schien unvorstellbar. Aber es musste sein.
Er schloss die Kühlschranktür und hob ab.
»Dick?« Es war Janson. Morrow hatte morgens im Büro angerufen und seiner Sekretärin Bescheid gegeben, dass er nicht kommen werde. »Tut mir leid, wenn ich dich störe, aber es gibt Neuigkeiten über Harry Comfort. Ich dachte, du wolltest es erfahren.«
»Gute oder schlechte?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau. Unser Mann hat vorhin angerufen und gesagt, sie hätten ihn verloren. Offenbar hat er vorgestern Abend ein Touristenhotel in Kailua betreten und ist nicht mehr herausgekommen.«
»Das würde ich als schlechte Neuigkeit bezeichnen.«
»Ich auch. Aber wir haben ihn anscheinend wiedergefunden. Die Flugsicherung sagt, ein Harry Lyttle habe ein Last-Minute-Ticket für den Nachtflug von Kailua gekauft. Er legte einen kanadischen Pass vor.«
»Wohin ist er geflogen?«, wollte Morrow wissen.
»Das ist ja das Interessante.« Janson legte eine dramatische Pause ein. »Er ist gestern Nachmittag auf dem Dulles Airport gelandet.«
»Er ist also hier?«
»Er war es. Heute Morgen ist unser Mr Lyttle erneut ins Flugzeug gestiegen. Flog nach Paris und weiter nach Casablanca.« Wieder eine dramatische Pause. »Der Junge muss mit ihm Kontakt aufgenommen haben.«
»Ich dachte, wir hätten das im Griff.«
»Haben wir auch«, versicherte Janson. »Bei Irene ist es seit gestern sehr still. Keinerlei Anrufe.«
»Gar nichts?«
»Kein Pieps.«
Morrow massierte seinen Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger. Er war entsetzlich müde. Vollkommen fertig. Genau wie der andere, hörte er Marina sagen. Comfort, dachte er. Obwohl es so viele Jahre her war, hatte Harry unbedingt kommen müssen.
»Er war bei ihr«, sagte Morrow wütend. Er meinte Irene. Und auch Susan.
»Aber das hätten wir gehört«, beharrte Janson.
»Nicht, wenn er etwas an der Leitung gedreht hat.«
Schweigen.
»Um wie viel Uhr landet er in Casablanca?«
»Vor etwa dreißig Minuten.«
Morrow sagte nichts mehr.
»Was sollen wir machen?«
»Anfangen, den Baum zu rütteln«, wies Morrow ihn an. »Er wird Hilfe brauchen.«
»Und Irene?«
»Das übernehme ich.«
Marokko
Harry war schon oft in Casablanca gewesen. In den siebziger und frühen achtziger Jahren, als die Afrika-Abteilung sein Zuhause gewesen war, unterhielt er wichtige Kontakte in Marokko und hatte die Stadt regelmäßig besucht. Sie hatte ihm damals nicht gefallen und gefiel ihm auch jetzt nicht.
Der ganze Ort verströmte eine schäbige Arroganz, die Harry unerträglich fand. Alles, was den Charme anderer marokkanischer Städte ausmachte, war in Casablanca einer hässlichen westlichen Geschäftsmäßigkeit gewichen: breite Boulevards und ausdruckslose graue Fassaden, Frauen in dunkelblauen Businesskostümen und schwarzen Lederpumps. Und am Rande der Stadt sammelte sich der Ausschuss des Kapitalismus: gottlose Slums, so weit das Auge reichte.
Selbst die Medina wirkte künstlich, dachte Harry, während er durch die schmalen Gassen der Altstadt ging. Ein Relikt, das die Zerstörer der Stadt nicht angerührt hatten, eine Kuriosität für die Touristen. Um diese Zeit wagten sich allerdings nur die dümmsten oder ganz verzweifelten Besucher in die Gegend. Harry fragte sich, zu welcher Gruppe er wohl gehören mochte.
Es war spät und erschreckend dunkel, der Himmel nur ein schmaler Streifen, mattschwarz und sternenlos. In den Gassen hing das Stöhnen von Sex und Tod, es war wie eine zum Leben erwachte mittelalterliche Höllenvision. Eine Gestalt trat aus einem Hauseingang und zischte Harry ein Angebot ins Ohr: Drogen, eine Frau oder ein anderer Weg zur Verdammnis, die Früchte der Versuchung mussten nur gepflückt werden.
»Verpiss dich!«, knurrte Harry mit zusammengebissenen Zähnen. Dafür brauchte man keine Dolmetscher. Er litt noch immer unter seinem Kater und dem grauenhaften Jetlag. Von Tamarack Pines aus war er um die halbe Welt geflogen und hatte keine Lust, sich von Zuhältern anmachen zu
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