Verscharrt: Thriller (German Edition)
Levins Wohnung erschossen wurden. Aber welche Verbindung besteht zwischen den beiden, abgesehen davon, dass beide zur falschen Zeit am falschen Ort waren? Was hatte der Junge dort zu suchen, und warum war er von New York nach Florida gefahren? Dann denkt sie über Levins Holzlöffel und die aufwärts gerichtete Flugbahn der Kugel im Körper des Jungen nach.
Wenn Wawrinka in ein kleines Energietief sackt, schiebt sie eine CD mit den frühen Stones in den Player oder eine Garage-Punk-Compilation mit Bands, deren Namen wie Tatverdächtige klingen– Little Willie and the Adolescents, The Intruders. Als Wawrinka den Refrain mitsingt, fällt O’Hara neben den naheliegendsten Vorteilen lesbisch zu sein noch ein weiterer auf: Neun von zehn Rocksongs handeln von Mädchen. Wenn man lesbisch ist, muss man das Geschlecht nicht umwandeln. Wenn Mick was über eine Siamkatze von einem Mädchen erzählt, kann Wawrinka einfach so mitsingen, ohne dass in der Übersetzung etwas verlorengeht.
Der aufpolierte Crown Vic verschlingt die Meilen, und sie fahren bereits eine halbe Stunde durch Georgia, westlich des Okefenokee Swamp, als O’Hara ihr flaues Gefühl im Magen mit der wachsenden Gewissheit assoziiert, dass die gesamte Fahrt vergeblich sein wird. Je näher sie Walterboro kommen, umso mehr zweifelt sie daran, dass dieselben Leute den Volvo gestohlen haben, die Banyan Bay zuvor in einem grünen Transporter verlassen hatten. Und jetzt kommt O’Hara ein noch viel beunruhigenderer Gedanke: Das Alter des Opfers ist ein Detail, aufgrund dessen sie sich auf den Volvo eingeschossen hatte, und obwohl es anscheinend in ein gewisses Schema passt, bleibt die Frage, woher die Täter, abgesehen von einem Schwerbehindertenausweis hinter der Windschutzscheibe, überhaupt gewusst haben sollten, dass der Besitzer alt war.
Achtzig Minuten später überqueren sie die Grenze nach South Carolina. Noch einmal zwei Minuten später verlassen sie den Highway und fahren am Coleton County Police Department vor. Deputy Sheriff Carter Barnwell wartet bereits und fährt sie in seinem Wagen zum Western Highway 1560, der Adresse des Hauses, von dessen Auffahrt der 93er Volvo vor sechs Monaten verschwand. O’Hara war im Verlauf der Jahre ein paar Mal nach Florida gefahren, hatte aber die Autobahn nie verlassen. Die Landstraßen vermitteln ihr einen ersten Vorgeschmack auf den ländlichen Süden.
Unter der Adresse Western Highway 1560 finden sie ein gut erhaltenes, aber schon älteres Ranchhouse, und O’Hara ist erleichtert. Bei Tageslicht hätten die Täter ohne Weiteres erkennen können, dass in dem Haus eine ältere Person oder ein älteres Ehepaar wohnt. Angefangen bei den Vorhängen in den Fenstern bis zu den Terrassenmöbeln und dem Briefkasten wirkt alles ziemlich betagt. An der Auffahrt steht nur eine einzige Mülltonne, und im Fenster der Garage klebt ein steinalter Aufkleber der Veteranenorganisation. Vor 9/11– und der Aufkleber ist ganz eindeutig älter– sah man so was ausschließlich bei Leuten, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten.
In den nächsten beiden Stunden fährt Barnwell sie herum, bringt sie an ein Dutzend Orte, an denen zumindest eine verschwindend geringe Chance besteht, dass ein verlassenes Fahrzeug unentdeckt bleiben könnte, aber als die dritte Stunde der verschlafenen Rundfahrt anbricht, blüht O’Haras Pessimismus erneut auf wie eine Blume in einem teuflischen Frühjahr. In Walterboro gibt es fünf Highschools, und sie überprüfen alle, ebenso die Parkplätze des Krankenhauses, der Spielplätze, des Multiplexkinos und der Einkaufszentren.
» Das Problem ist « , sagt Barnwell bei laufendem Motor im wartenden Wagen, » dass diese Parkplätze, abgesehen von dem des Krankenhauses, um zehn oder elf, spätestens aber um Mitternacht wie leer gefegt sind. Wenn da ein Wagen stehen bleibt, fällt er sofort auf. «
Am frühen Nachmittag machen sie halt in einem Diner in der Main Street, wo Barnwell sie Richtung Hackbraten und Key Lime Pie lenkt und O’Hara die Rechnung übernimmt– das Mindeste, was sie tun kann, nachdem sie dem Mann völlig vergebens einen halben Tag lang die Zeit gestohlen hat. » Gibt’s Lesben- oder Schwulenbars in der Stadt? « , fragt Wawrinka.
Oh Gott, denkt O’Hara. Das hat uns gerade noch gefehlt.
» Ein paar, wieso? «
» Die liegen meist ein bisschen abseits, besonders in einer Kleinstadt wie dieser. Und wenn jemand ein Fahrzeug hinter einer solchen Bar abstellt, würden die Leute
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