Verschleppt
Wolke von Auspuffgasen in der Luft hinterlassend.
Joyce wartete noch kurz, um sicherzugehen, dass alles ruhig blieb. Dann kroch sie zwischen zwei Autos hindurch an den Straßenrand. Schaute nach links und rechts. Niemand.
Sie überquerte die Straße, wobei sie darauf achtete, dass sie nicht in Reichweite der Überwachungskamera geriet. Die war so gut wie unsichtbar genau über der Eingangstür angebracht. Dass drinnen permanent jemand auf einen Monitor mit den Kamerabildern starrte, war unwahrscheinlich – dazu hatten sie zu wenig Personal, und die Bedrohung war wohl auch zu gering, aber Joyce wollte lieber auf Nummer sicher gehen.
Klopfenden Herzens erreichte sie die rechte Seite des Gebäudes und drückte sich in einer Mauernische an ein Tor. Sie blieb still stehen, atmete durch den Mund ein und langsam wieder aus. Sie zitterte vor Anspannung. Es konnte so viel schiefgehen. So unglaublich viel.
Nicht dran denken.
Das Tor und die Mauer waren eine Art Puffer vor dem dahintergelegenen Garten des Bordells und verbanden das Gebäude mit dem benachbarten zur rechten Seite. Wider besseres Wissen probierte sie die Klinke. Sie ließ sich zwar problemlos runterdrücken, aber das Tor selbst gab keinen Zentimeter nach.
Sie benutzte den Ansatz der Klinke als Trittstufe, stemmte sich davon ab, klammerte sich an den oberen Rand und zog sich hoch. Oben schwang sie die Beine über die Mauer und ließ sich auf der anderen Seite langsam hinuntersinken.
Ihre hohen Turnschuhe berührten den Boden. Ein weicher, federnder Untergrund – Gras.
Sie kauerte sich zusammen und suchte Halt an der rechten Außenmauer des Gebäudes. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, das Schlucken fiel ihr schwer. Nervös blickte sie auf die Uhr. Die Zeiger leuchteten hellgrün auf. Zehn nach sechs.
Sie lief zur Hinterseite des Bordells und schaute nach oben. Um den weißen Dachrand sehen zu können, der sich gegen den dunkelgrauen Himmel abzeichnete, musste sie den Kopf in den Nacken legen. Es sah aus, als würde der Giebel wanken, sich langsam neigen und gleich zu ihr hinüberkippen. Der Rand schien kilometerweit vom Boden entfernt. Dahinter, über der Rinne, befand sich das ausgebaute Dachgeschoss. Dort lagen die Wohnräume von Maxim. Jetzt gleich, wenn alle beim Essen saßen, war dort vermutlich kein Mensch.
Sie sprang auf eine Fensterbank und begann ihre Kletterpartie.
Es ging verdammt schwer. Sie gab sich größte Mühe, nicht nach unten zu schauen. Jedes Mal, wenn sie ausatmete, kristallisierte sich die in ihren Lungen erwärmte Luft als weißer Kondensdampf im kalten Novemberabend. Ihre Muskeln waren bis zum Zerreißen angespannt, und ihr unter der Biwakmütze verborgenes Gesicht war vor Konzentration wie zu einer Maske erstarrt.
Als ihre Füße den knarrenden Dachrand erreichten und sie das gekippte Dachfenster in den Blick bekam, war bereits über eine halbe Stunde verstrichen. Länger als sie geplant hatte. Es war zehn nach halb sieben. Der Dachrand war schmal, aber als sie in der Rinne zu stehen versuchte, versank sie bis zu den Knöcheln in einer nassen Pampe voller Herbstblätter. Sie stellte den anderen Fuß aufs Dach und ließ ihren Körper dann langsam nach vorne sinken, bis sie mit dem ganzen Körper flach auf der geziegelten Schräge lag. Kriechend und so leise wie möglich versuchte sie, sich mit Füßen, Knien und Ellbogen in Richtung des Dachfensters vorzuarbeiten. Es stand einen Spaltbreit offen. Die Information stimmte schon mal.
Mit der behandschuhten Hand am Fenster verharrte sie regungslos und lauschte, ob sie drinnen jemanden hörte.
Es blieb nach wie vor alles still.
Die Anspannung in ihren Zügen wich einem zittrigen Lächeln. Jetzt musste sie hinein.
Sie hakte die Finger hinter das Velux-Fenster, zog sich hoch und drückte es ein Stück weiter auf. Es knarrte leicht, gab aber nach. Die etwa einen halben Meter lange Öffnung war nun so breit, dass man hindurchkriechen konnte. Sie stützte die Arme auf den Rand und schaute unter sich ins Zimmer.
Es war ein Schlafzimmer, ein luxuriöser Raum, spärlich erleuchtet von einer Bettlampe. Hellbeiger Fußboden. Schräge Wände, die sie stark an Origami erinnerten, und weiß gestrichene Balken. Unter dem Fenster, direkt unter ihr, stand ein großes Doppelbett mit dicken roten Kissen, am Fußende ein zusammengeknüllter, auberginefarben glänzender Überzug.
Von seinem komfortablen Nest aus konnte Maxim also direkt in den Sternenhimmel schauen. Die Matratze lag höchstens
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