Verschleppt
neue Fotografie-Aufträge.
Das Wetter.
Sil Maier.
Es waren keine wichtigen Dinge.
Nicht im Entferntesten waren es wichtige Dinge.
Auf diesen zwanzig Quadratmetern war alles auf die kahle, raue Essenz reduziert. Wirklich wichtig war, dass man ab und zu seinen Magen füllen konnte, dass man keine Schmerzen hatte und nicht krank war, dass der eigene Körper funktionierte. Das, und in Sicherheit zu sein.
Der Rest war Nebensache. Auch Liebe.
Sie wusste nicht wie, nur dass dieser Zustand ein Ende nehmen musste. Es musste aufhören. Wie auch immer.
Sie hatte alles versucht, was ihr in ihrer Lage möglich war. Mehr konnte sie nicht tun. Der Kampf war vorbei, sie war leer, verbraucht, kaputt.
Gestern noch war ihr diese Vorstellung durch den Kopf gegangen: Sil, der als Racheengel hier einfallen und alle niedermetzeln würde, um am Ende sie, Susan, von ihrer Matratze hochzuheben und mitzunehmen. Kurz hatte sie Angst gehabt, dass er dabei sein Leben lassen könnte. Dass der Versuch, sie zu befreien, womöglich seinen Tod bedeuten würde.
Aber jetzt, heute zum ersten Mal, war diese Angst verflogen.
Wenn Sil sterben sollte, wenn sie ihn erschießen, ihn abstechen oder wie auch immer umbringen sollten, dann würde sie sich damit abfinden.
Denn das bedeutete zumindest, dass es endete.
Die Typen hätten dann erreicht, was sie wollten, und als Lockvogel wäre sie nur noch überflüssiger Ballast. Zum Arbeiten zu alt, das hatten die beiden Kerle ihr gerade überaus deutlich zu verstehen gegeben. Also würden sie sie umbringen.
Zu sterben war eigentlich gar nicht so schlimm, dachte sie, und sie erschrak nicht einmal mehr über diesen Gedanken.
59
»Steht dein Handy auf Vibrationsalarm?«
Er nickte.
Joyce konnte Maier im Dunkeln kaum sehen. »Lass es uns noch mal kontrollieren«, flüsterte sie, »zur Sicherheit. Okay?« Sie holte ihr Mobiltelefon aus der Tasche, rief die zuletzt gewählte Nummer auf und drückte die Wähltaste. Nach ein paar Sekunden ertönte aus Maiers Hosentasche ein leises Summen.
»Beruhigt?«, murmelte er.
»Jetzt du mich.«
Sein Display leuchtete in der Dunkelheit blau auf, und das Nokia, das Joyce in der Hand hielt, fing zu surren an. Sie steckte es in ihre taktische Weste.
»Wie spät hast du’s?«, flüsterte er.
»Zehn vor sechs.«
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und gab ein bestätigendes Brummen von sich.
»Innerhalb der nächsten halben Stunde schicke ich dir eine SMS. Halt dich bereit.« Einem Impuls folgend, beugte sie sich vor und strich ihm über die Wange. Seine Bartstoppeln waren kratzig. »Drück mir die Daumen.«
Damit wandte sie sich ab und ging zur Rückwand des Raums, schob die Holzplatte zur Seite und landete mit einem Sprung im Garten, zwischen Unkraut und Abfällen.
Maier brachte die Holzplatte wieder in ihre ursprüngliche Position.
Wie eine Katze kletterte Joyce über die Mauer, ließ sich vorsichtig aufs Pflaster hinabsinken und lief nach vorne. Auf der Straße war keinerlei Bewegung zu erkennen. Die Eingangstür von Maxims Bordell befand sich jetzt schräg rechts von ihr.
Von nun an musste sie sich im Schatten halten und sich beim geringsten Anlass sofort ducken. Geräuschlos bleiben. Wenn ein Passant sie bemerkte, würde dieser bestimmt die Polizei rufen. Sie trug eine schwarze Biwakmütze, die lediglich die Augen frei ließ, schwarze Kleidung und hohe, sorgfältig gewählte Turnschuhe, aus einem Material, das nicht knarrte, raschelte oder quietschte, selbst auf glattem Untergrund waren die Sohlen so gut wie unhörbar. Über ihrer schwarzen Kleidung trug sie die einzige schwarze Weste, die sie besaß – Maier musste ohne auskommen. Neben der Walther P5 fanden darin eine Dose Tränengas Platz – für den Einsatz in geschlossenen Räumen –, eine kleine Maglite, deren Glas zum größten Teil mit schwarzem Tape abgeklebt war, sodass der Lichtstrahl nicht zerfaserte, zusätzliche Munition sowie ein Messer. In ihrem Wadenholster steckte die TPH, und sie trug ein Paar dünne Neoprenhandschuhe.
Vorgebeugt lief sie im Schutz geparkter Wagen über das Trottoir. Gerade wollte sie die Straße überqueren, als bei Maxim die Tür aufging.
Eine hellblonde Frau kam nach draußen. Joyce schätzte sie auf Anfang zwanzig. Sie hatte toupiertes, hochgestecktes Haar, trug einen glänzenden Trenchcoat, und ihre Absätze klapperten laut auf den Gehsteigplatten. Sie ging zu einem kleinen japanischen Wagen, stieg ein, ließ den Motor an und fuhr davon, eine
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