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Verschleppt

Verschleppt

Titel: Verschleppt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verhoef & Escober
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nicht nur zehn oder zwanzig. Vielleicht waren in Deutschland, in diesem Bundesland oder eben auf diesem Friedhof dreißig Jahre normal – was wusste er schon davon?
    Er drehte sich zu dem Kerl in der roten Latzhose um, der ein paar Meter weiter an einem rechteckigen Beet beschäftigt war. Er zerrte verwelkte Topfpflanzen aus der Erde und warf sie treffsicher in eine Schubkarre, die auf dem Kiesweg stand, ohne sich auch nur nach ihnen umzusehen.
    »Entschuldigung?«, sagte Maier.
    Unwillig blickte der Angesprochene auf, die Augen zum Schutz vor der Sonne leicht zusammengekniffen.
    »Können Sie mir sagen, nach welchem Zeitraum die Gräber hier normalerweise geräumt werden?«
    Der Mann musterte ihn kurz, zog einen seiner Handschuhe aus und wischte sich ein bisschen Schmutz unter dem Auge weg. »Wenn niemand mehr dafür bezahlt, meinen Sie?«
    Maier nickte bestätigend.
    »Nach zehn Jahren.«
    »Sind Sie sicher? Immer nach zehn Jahren?«
    »Hundert pro.«
    Maier schaute noch einmal zum Grab seiner Mutter, das mysteriös und unangetastet vor ihm lag, der Grabstein zum Teil von Schatten bedeckt. »Also, wenn ein Grab älter als fünfundzwanzig Jahre ist …«
    »Dann ist das Grabrecht bezahlt. Klarer Fall.« Der Gärtner kam von den Knien in die Hocke, stemmte die Hände in die Seiten und drückte den Rücken durch. Dabei verspürte er anscheinend einen Schmerz und verzog kurz das Gesicht. »Um welches Grab geht es denn? In dieser Ecke hier kenne ich fast alle.«
    Maier deutete auf den grauen Grabstein. »Um dieses.«
    »Verwandtschaft?«
    Maier schwieg. »Meine Mutter«, sagte er schließlich leise.
    Der Mann schaute zu dem Stein, las die Inschrift, ließ dann seinen Blick zwischen dem Grabstein und Maier hin und her wandern. Schließlich nickte er verständnisvoll. »Das muss schwer gewesen sein. Sie waren noch sehr jung.«
    »Schwer ist es immer«, antwortete er, und seine Gedanken schweiften zu einem anderen Begräbnis ab, das längst nicht so lange zurücklag wie das von Maria Maier. Letztes Jahr hatte er Abschied nehmen müssen von Alice, die nach seiner Mutter und seiner Oma die dritte wichtige Frau in seinem Leben gewesen war. Den Trauergottesdienst hatte er nur überstanden, indem er sich klarmachte, dass in dem glänzenden weißen Sarg, unter den sündhaft teuren Rosen, kein Mensch mehr lag.
    Auch hier auf dem Nordfriedhof lagen lediglich sterbliche Hüllen unter der Erde. Verbrauchte menschliche Verpackungen. Abgestorbenes Fleisch, seelenlos, wesenlos. Die Seele, der Geist oder was immer es war, das einen träumen und nachdenken, Schmerz, Mitleid und Liebe empfinden ließ, jenes ungreifbare und unbegreifliche Wesen, das sich vorübergehend einen Körper geliehen hatte, um darin zu wohnen und ihn zu leiten – wenn dieses Etwas nach dem Tode weiterexistierte, dann hielt es sich bestimmt nicht an einem Ort wie diesem auf.
    »… Und dran gewöhnen tut man sich auch nicht«, fügte Maier hinzu. Er holte seine Zigaretten aus der Innentasche und hielt die halb geöffnete Packung dem Gärtner hin.
    »Ich rauche nicht. Trotzdem danke.«
    Maier drückte die Packung am oberen Rand zusammen und steckte sie weg.
    »Sie wohnen nicht in München, oder?« Sein Gegenüber musterte ihn mit gesteigertem Interesse. »Sie sind von hier und nicht von hier. Dieser Akzent … Ich kann’s nicht genau sagen, aber …«
    »Wie kann ich herausbekommen, wer dieses Grab pflegt?«, unterbrach Maier ihn.
    »Das ist nicht sonderlich schwer. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, werden die Gräber hier alle von uns gepflegt. Das hat sich im Laufe der Jahre so …«
    »Aber wer bezahlt für die Pflege des Grabes meiner Mutter?«
    Der Mann zuckte die Schultern. »Das müssen Sie meinen Chef fragen. Damit hab ich nichts zu tun.«
    »Und wo finde ich Ihren Chef?«
    Mit dem Kinn deutete der Mann auf einen roten Anhänger mit weißer Schrift auf der Seite, der am Anfang des Wegs im Schatten von ein paar Bäumen stand.
    »Da stehen Adresse und Telefonnummer drauf. Fragen Sie am besten nach Herrn Rainer Hesselbach. Und wenn Sie da nicht weiterkommen, versuchen Sie es vielleicht am besten beim Kreisverwaltungsreferat.«
    »Kreis… was?«
    »Kreisverwaltungsreferat, in der Poccistraße.«
    »Und was soll ich da?«
    »Was Sie da sollen? Da sitzen die Friedhofsverwaltung und das Einwohnermeldeamt. Da müssen Sie zum Beispiel hin, wenn Sie das Grabrecht verlängern wollen. Ich schätze, dass Sie dort bessere Chancen haben als bei meinem Chef.« Er

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