Verschleppt
Richtung Nordfriedhof.
Wenn man nicht darüber nachdachte, dass hier überall Menschen unter der Erde lagen, dass Tausende, wenn nicht Hunderttausende auf diesem immens großen Friedhof ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten, konnte man meinen, man befände sich in einem ganz normalen, gepflegten Park mit alten Bäumen, schönen Bauten und Statuen, an denen Rosen emporrankten. Hier und dort standen Sitzbänke. Eine fahle Sonne schien vom Himmel herab, die Grabsteine warfen lange, rechteckige Schatten auf die Kieswege. Bis auf das Gezwitscher der zahllosen Vögel, die pfeilschnell zwischen den Zweigen hindurchflatterten, und das Getucker kleiner Traktoren und sonstiger Gefährte mit Anhängern war es hier ganz still. Ein paar Gärtner kümmerten sich um Gräber und Bepflanzungen, in unregelmäßigen Abständen lagen Abfallhaufen herum: verwelkte Topfchrysanthemen, Veilchen, von weißem Wurzelwerk durchzogene Erdklumpen, Tonscherben.
Er konnte keine Logik in der Abfolge der Gräber erkennen. In langen Reihen lagen hier alle durcheinander: Männer, Frauen, Kinder. Viele Familiengräber. Den Inschriften zufolge aus dem neunzehnten Jahrhundert stammende Steine, von Flechten überzogen und mit bis zur Unkenntlichkeit verwitterter Schrift, standen neben ganz neuen aus glattem, glänzendem Granit, mit frischen Blumen geschmückt.
Er ging zu einem Übersichtsplan. Der Friedhof war in mehr als zweihundert Abschnitte unterteilt. Wie viele Gräber das pro Abschnitt sein mochten? Jedenfalls viele. Sehr viele.
Was tat er hier eigentlich? Was für einen Sinn hatte es, nach Jannys Grab zu suchen? Mit ihr reden konnte er doch nicht mehr. Da hätte er früher kommen müssen.
Genauso sinnlos war es, nach dem Grab seiner Mutter zu suchen. Das wäre längst verschwunden. Seine Großmutter hatte das Grabrecht nicht mehr bezahlt, er selbst auch nicht. 1977 war seine Mutter gestorben. Nach einer gewissen Zeit wurden solche Gräber geräumt, nach zehn, zwanzig Jahren vielleicht.
Es schien sinnvoller, ins Zentrum zurückzufahren und zu erkunden, wo sich das Münchner Einwohnermeldeamt befand. Vielleicht war dort jemand bereit, seine Geburtsurkunde aus den Archiven hervorzukramen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Name seines Vaters dort vermerkt wäre, war zwar sehr gering, aber einen Versuch war es wert.
Neben dem Friedhof, der mindestens so groß war wie vier Fußballplätze, fiel ihm ein längliches gelbes Gebäude mit rotem Ziegeldach, hellen Arkaden, Säulen und in Pastelltönen gehaltenen Wandbildern auf. Maier kannte dieses Gebäude –wieder war eine Erinnerung hochgekommen. Irgendwo in diesem mediterran wirkenden Komplex hatte er neben seiner Oma gesessen, das Deckengewölbe angestarrt und den seiner Mutter gewidmeten Worten des Pastors gelauscht. Viel verstanden hatte er nicht. Von diesem Gebäude aus war der Sarg zum Grab getragen worden. Parfümduft – Eau de Cologne –, Gesichtspuder, Schluchzen.
Maier beschleunigte seine Schritte. Dieser Weg musste es gewesen sein. Eine Tanne, die reichlich Schatten spendete, dann nach links. Verdammt. Sein Herz geriet aus dem Takt, sein Gesicht erstarrte. Verdammt, verdammt. Da rechts. Ja, genau da. Eine Tumba mit einem enormen Adler. Dann wieder geradeaus. Vorbei an einem monströsen Grab mit trauernden Engeln, an ihren riesigen Flügeln. Irgendwo dahinter lag es. Unwillkürlich ging er schneller. Zog die Nase hoch, wischte sie ab, mit der Faust.
Noch einmal nach links. Oder nach rechts? Nein, links. Ein junger Mann, der eine mit Werbung bedruckte rote Latzhose anhatte, kniete vor einem der Gräber und zerrte Pflanzen aus dem Erdreich. Er würdigte Maier keines Blickes, als dieser vorüberging.
Immer schneller ging er, gehetzt.
Hier war es. Genau hier.
Er blieb stehen. Wie gelähmt, ungläubig, fassungslos. Kraftlos hingen seine Arme herab, er spürte, wie ihm das Blut durch den Kopf rauschte.
Vor der Grabplatte standen ordentlich gepflegte Rosensträucher. Die Inschrift in dem schlicht gehaltenen Stein war mühelos zu entziffern:
MARIA MAIER
1948–1977
7
Maier zwang sich, die Inschrift noch einmal zu lesen, diesmal richtig, Buchstabe für Buchstabe. Doch so langsam und konzentriert er auch lesen mochte: Die Lettern setzten sich immer wieder zum Namen seiner Mutter zusammen. Darunter ihr Geburtsjahr, ein Bindestrich und dann das Todesjahr.
Vielleicht hatte er sich getäuscht. Vielleicht dauerte es doch dreißig Jahre, bis die Gemeinde die Gräber räumte,
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