Verschleppt
Eindhoven.«
»Ah, ich hab dir heute Nachmittag schon auf die Mailbox gesprochen.«
»Das habe ich gerade erst gesehen. Ich bin mit dem Fall beschäftigt und hab das Telefon die meiste Zeit nicht eingeschaltet.«
»Macht nichts, dachte ich mir schon. Ich sitze jetzt gerade im Auto, auf dem Weg nach Hause, aber ich habe den Ausdruck dabei.«
»Wunderbar, du bist ein Engel!«
»Ich komme gleich noch bei einer Post vorbei. Soll ich den Umschlag an eure Dienststelle schicken, als Eilsendung per Einschreiben? Dann hast du ihn morgen früh auf dem Tisch.«
Um ein Haar hätte sie laut »Nein!« gerufen. »Können wir das auch jetzt gleich durchgehen, Henriette? Oder ist es dafür zu viel?«
»Kommt drauf an, was du suchst.«
»Wo ist er denn im Augenblick?«
»Der war anscheinend ziemlich viel unterwegs heute. Ich glaube, irgendwo in … Nein, warte, so geht das nicht. Ich halte kurz an, dann kann ich schnell die Liste rausholen.«
Joyce drehte den Wasserhahn auf, ließ den Tank der Senseo volllaufen und setzte ihn wieder in die Halterung ein. Legte zwei Pads in die Mulde und stellte einen Becher auf das Gitter.
Während der Apparat geräuschvoll zum Leben erwachte, ging sie mit dem Telefon am Ohr ins Wohnzimmer.
»Okay, da bin ich wieder«, hörte sie Henriette sagen. »Hast du was zu schreiben?«
Joyce fischte einen Stift zwischen den verschrumpelten Äpfeln in der Obstschale heraus und griff nach einer Zeitschrift. Die Anzeige auf der Rückseite bestand zur Hälfte aus weißer Fläche. »Okay, schieß los.«
Henriette begann mit ihrer Aufzählung. Daten, Zeitpunkte, Geldbeträge, Ortsangaben und die Namen, zu deren Gunsten die Zahlungen erfolgt waren: Restaurants, Hotels, Tankstellen. Den Daten seiner Visa-Karte zufolge war Maier über Frankreich nach München gefahren, wo er vier Tage geblieben war, hatte dann vier Nächte in Oberaudorf verbracht, bevor er heute Morgen Deutschland verlassen hatte und anscheinend ohne Unterbrechung über Österreich nach Italien durchgefahren war. Noch heute Nachmittag hatte er bei einer Pizzeria in der Peschiera del Garda neunundzwanzig Euro abgerechnet.
»Ich wollte das Ding gerade herunterfahren, da kam noch was«, hörte sie Henriette sagen. »Auf der A8, eine péage , in Saint-Maximin-la-Sainte-Baume, also in Frankreich. Eine Tankstelle, zweiundachtzig Euro. Das macht vier Länder an einem Tag, und der ist noch nicht mal zu Ende … Sag mal, Joyce, ich sterbe wirklich fast vor Neugier. Willst du mir nicht ausnahmsweise mal erzählen, was der Typ ausgefressen hat? Ich verspreche auch hoch und heilig, dass ich kein Sterbenswörtchen darüber verlieren werde.«
Joyce hörte sie nicht. Sie stand da wie gelähmt, während ihr langsam kalt wurde. Starrte ihre hastig auf die Rückseite der Zeitschrift gekritzelten Notizen an.
Vier Tage in München. Innerhalb eines Tages Frankreich durchquert. Getankt bei Saint-Maximin-la-Sainte-Baume.
Du weißt es. Du bist unterwegs.
»Henriette, wann war das Tanken?«
»Welches?«
»In Frankreich. Was du zuletzt gesagt hast.«
»Äh, kurz bevor ich weggegangen bin. Kurz vor fünf.«
Nein, du bist sogar schon dort.
»Joyce? Bist du noch dran?«
»Ja. Ich hab nachgedacht. Danke, Henriette. Ich hoffe, ich darf dich nächstes Mal wieder anrufen.«
»Klar, gerne. Was soll ich mit dem Ausdruck machen? Trotzdem noch schicken? Ist kein Problem.«
»Eigentlich brauche ich ihn nicht. Kannst du ihn durch den Schredder jagen?«
»Ja, natürlich.«
»Danke.« Sie beendete die Verbindung und stand kurz regungslos da, den Blick starr auf die Wand gerichtet. Dass Maier plötzlich in der Gegend von Puyloubier auftauchte, war kein Zufall. Es konnte kein Zufall sein.
Es war vorherbestimmt.
Sie würden einander begegnen.
29
Im Zimmer nebenan wurde jemand geschlagen. Susan hörte Möbelrücken, dann einen hohen, schrillen Schrei.
Es war nicht das erste Mal.
In den ersten in dieser zwanzig Quadratmeter großen Hölle verbrachten Tagen hatte sie sich vorzustellen versucht, was genau sich auf der anderen Seite der Mauer abspielte. Wie die Frau, die sie dort schreien hörte, wohl aussah, wie alt sie war, welche Nationalität sie hatte, wer derjenige war, der sie schlug – Robby? –, und warum.
Jetzt nicht mehr. Jetzt wollte sie sich nur noch die Ohren zuhalten und sich dagegen abschirmen. Ihr war alles klar geworden. Es gab Schlimmeres, als auf einer Matratze festgebunden zu sein, die von den eigenen Tränen, dem eigenen Schweiß
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