Verschleppt
zufolge hatte er noch vier Kilometer vor sich.
Als er das Dorf erreicht hatte, folgte er bei der ersten T-Kreuzung den Schildern nach rechts. Allmählich wurde ihm klar, was es mit der »Domaine Capitaine Danjou« tatsächlich auf sich hatte. Dass es weder ein privates Anwesen noch ein Park noch ein verfallendes Landgut war.
Die Zufahrt zum Hauptgebäude befand sich kurz hinter dem ebenfalls zum Grundstück gehörenden Friedhof, eine lange Straße, die sich zwischen alten Weingärten hindurchschlängelte. Maier hatte das Radio ausgeschaltet und fuhr im Schritttempo. Links und rechts von ihm arbeiteten Männer in Tarnanzügen. Junge Kerle mit kahl rasierten Köpfen, Weiße und Dunkelhäutige, aber auch Greise mit zerfurchten Gesichtern und Körpern, die schon genauso verknöchert und verbogen waren wie die sie umgebenden Weinstöcke. Keiner von ihnen schaute auf, als Maier vorbeifuhr. Die Zufahrt mündete in einen staubigen Platz. Etwa fünf Autos waren hier geparkt, etwa die zwanzigfache Anzahl hätte wohl darauf Platz gehabt.
Maier stellte den Carrera unter einen großen Baum und stieg aus. Schob seine Ray-Ban-Brille auf die Stirn, kniff die Augen zusammen und ließ den Blick über die Weinfelder zu den im Blätterwerk der Reben arbeitenden Männern schweifen. Soldaten. Nicht nur die Klamotten deuteten darauf hin. Es war ihre ganze Haltung, ihre Ausstrahlung.
Er holte tief Luft und drehte sich zu den Gebäuden um. Mehrere Stockwerke hoch, aus beigefarbenem und grauem Sandstein, machten sie einen strengen und vornehmen Eindruck. Vor allem durch die massiven Ecksteine und Treppenpodeste wirkten sie, als wären sie bereits Jahrhunderte alt.
Zwischen den Gebäuden gab es ein schweres Eisentor, durch das man auf einen geräumigen Binnenplatz gelangte. Maier ging hindurch, tat ein paar Schritte vor und blieb stehen.
Kleine Fußwege führten von hier aus zu den anderen Teilen des Anwesens. Dazwischen lagen gepflegte Rasenflächen, Sträucher und Bäume. Wegweisern zufolge führten diese Wege zu einer Bar, einer boutique , einem musée und einem élevage , also einem Zuchtbetrieb. Das hügelige Gelände, einzelne Gebäude und Baumgruppen entzogen all dies aber dem Blick.
Rechts vom Hauptgebäude sah Maier einen schwer auf einen Wanderstock gestützten Mann vor sich hin schlurfen. Seine faltige Gesichtshaut war wie gegerbtes Leder, die sandfarbene Kleidung ordentlich geplättet, sogar mit Bügelfalte in der Hose. Kurz schaute er aus dem Augenwinkel zu Maier herüber, dann verschwand er aus dessen Blickfeld. Die Sonne fing an, sich zu verkriechen, schon bald würde der Platz im Dunkeln liegen.
Maier konnte sich nicht daran erinnern, je zuvor an einem dermaßen surrealistischen Ort gewesen zu sein. Die ganze Situation verursachte ihm ein unangenehmes Gefühl. Jeden Augenblick rechnete er damit, am Kragen gepackt zu werden, als ein Eindringling, der hier nichts zu suchen hatte. Innerlich musste er dagegen ankämpfen, auf der Stelle wieder in sein Auto steigen und wegfahren zu wollen.
Anscheinend war dieses Anwesen öffentlich zugänglich. Das musste so sein. Niemand hatte aufgesehen, als er die Auffahrt entlanggefahren war, und auch jetzt wurde er nicht weggeschickt. Keine Schranke an der Straße, das Zugangstor sperrangelweit offen. Der ganze Komplex schien auf Besucher eingerichtet zu sein. Vielleicht sogar auf Touristen.
Zu seiner Linken befand sich ein gedrungenes Gebäude mit einer schwarzen Aufschrift: Accueil . Sollten sich Besucher vielleicht dort anmelden? Zögernd machte er einen Schritt darauf zu, hielt dann aber inne.
Er befand sich in Frankreich, und sein Französisch war erbärmlich. Er hatte keine Ahnung, wie er in einer Sprache, die er kaum beherrschte, den Grund seines Kommens hätte erklären sollte. Außerdem wusste er nicht genau, ob es vernünftig war, sich zu diesem Zeitpunkt schon zu erkennen zu geben. Die Funktion dieser Domaine Capitaine Danjou war ihm noch immer nicht ganz klar, obwohl sich die Puzzlestücke nach und nach zu einem Ganzen zusammenfügten.
Was hatte dieser bizarre Ort in der Provence mit dem Grab seiner Mutter in München zu tun? Wie würden sie hier auf den Namen Flint reagieren? Wer war Flint überhaupt? Ein Mann oder eine Frau? Eine Person, die hier lebte und arbeitete oder gearbeitet hatte? Vielleicht hatte ja auch jemand die falsche Adresse angegeben. Oder die richtige Adresse mit einem falschen Namen. Möglich war alles.
Es schien ihm vernünftiger, sich erst ein
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