Verschleppt
und dem eigenen Urin durchtränkt war.
Sie wurde wenigstens in Ruhe gelassen. Bislang. Aber das konnte sich jeden Augenblick ändern. Daran hatte ihr Entführer keinen Zweifel gelassen. Seine Worte hallten in ihrem Kopf nach, zogen wie in einem Karussell immer wieder an ihr vorbei, wenn sie gerade kurz davor war einzuschlafen: Es gibt hier Leute, die der Meinung sind, dass du zu viel Platz beanspruchst. Dass du dir deinen Unterhalt auch mit Arbeit verdienen könntest, genau wie die anderen .
Anfangs hatte sie noch gehofft, dass die Sache gut ausgehen würde. Hatte auf eine Razzia der Polizei gehofft. Darauf, dass Sil kam und sie rettete. Dass ihr Entführer sie aus irgendwelchen Gründen wieder freilassen würde.
Jetzt war ihre Hoffnung dahin. Niemand wusste, dass sie hier war. Niemand würde kommen, um sie zu befreien.
Sie war auf sich allein gestellt.
Obwohl ihre Hand- und Fußgelenke seit gestern nicht mehr auf ihrem Rücken aneinandergebunden waren und sie jetzt flach auf dem Bauch liegen konnte, hatte der Schmerz nicht aufgehört. Die Plastikstreifen, die ihre Hände fesselten, waren dünn und hart, sie gaben keinen Zentimeter nach. Jeder Versuch, sie zu dehnen, führte zu stechenden Schmerzen, die ihren ganzen Körper durchzogen. Vor zwei Tagen, als sie nach unten gebracht worden war, hatte sie ihre Handgelenke zum ersten Mal wieder anschauen können. Sie war erschrocken über die tief eingedrückten violettblauen Striemen und die Blutergüsse, die makaber aussahen, wie breite Armringe.
Ihr Gesicht sah wahrscheinlich nicht viel besser aus. Das eine Auge war angeschwollen. Ihre Nase fühlte sich schwer an, wie ein Steinbrocken, sie konnte kaum dadurch atmen. Die Verletzungen in ihrem Mund waren nicht so schlimm. Die Zunge und die Innenseiten ihrer Wangen taten weh, aber die Zähne saßen alle noch fest im Kiefer verwurzelt. Keine Brüche.
Susan war klar, dass es noch viel schlimmer werden konnte, nein, würde . Dass die gestrige Abreibung nur eine Warnung gewesen war, ein fader Abklatsch dessen, was noch kommen würde.
Sie musste sich etwas überlegen.
Es bestand eine kleine Chance, dass man sie noch einmal aus diesem Raum herauslassen würde. Und ganz vielleicht –wenn sie weiterhin fügsam war – wurden sie vielleicht nachlässig und passten nicht mehr so gut auf sie auf, sodass sie entwischen konnte.
Aus purer Nervosität und Frustration heraus fing sie laut an zu lachen. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten: Gestern hatte sie ohne Stütze nicht mal die Treppe hinuntergehen können. Jetzt kam auch noch der Schmerz dazu. Schmerzen im Bauch, in den Beinen. Kaum spannte sie ihre Muskeln an, traten ihr Tränen in die Augen. Jede Bewegung war eine Qual. Rennen zu können war reine Utopie.
Sie krümmte die Zehen, entspannte sie wieder, zog sie hoch und streckte sie so weit wie möglich aus. Sie kniff die Augen zu und stöhnte.
Durchhalten.
Use it or lose it.
Vielleicht bekam sie eine einzige Chance. Dann musste sie in der Lage sein, sie zu nutzen. Genug Kondition haben, um dieser Hölle zu entfliehen. Sie musste stark werden.
30
Es war Viertel vor sechs. Die Sonne büßte mehr und mehr von ihrer Kraft ein. Die über die Baumwipfel hinausragenden Felsen hoben sich in allerlei Grau-, Weiß-, Rosa- und Blautönen von einem purpurfarbenen Himmel ab.
Maier merkte, wie sein Magen rumorte. Von Oberaudorf bis hierher war er quasi nonstop durchgefahren, über Innsbruck an den norditalienischen Dolomiten entlang Richtung Trient. Auf Höhe des Gardasees war er von der Autobahn abgefahren, um eine Pizza und zwei doppelte Espressi zu sich zu nehmen. Danach hatte er nur noch zum Tanken angehalten. Da er nun keine Ablenkung mehr fand und keine Ausrede mehr vorschieben konnte, war er doch noch eilig geworden.
Direkt vor ihm zeichnete sich immer deutlicher Puyloubier ab: eine Ansammlung von hellen Sandsteingebäuden, eine kleine Kirche, Wohnhäuser mit Putzfassaden und Fensterläden mit Lamellen. Das idyllische französische Dorf schmiegte sich an einen das Tal teilweise überschattenden Berghang. Zu beiden Seiten der zweispurigen Zufahrtsstraße erstreckten sich Felder mit Weinstöcken, Olivenbäumen und Lavendel.
Die herbstliche Provence hätte jedem gewöhnlichen Reisenden imponiert. Nicht so Maier, dessen Augen keine Regung verrieten und unablässig auf die vor ihm liegende Straße gerichtet blieben. Je näher er seinem Ziel kam, desto fester umklammerte er das Lenkrad. Dem Navigationssystem
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