Verschleppt
Innsbruck. Von der Grenze bis zur Hauptstadt Tirols würde er, selbst wenn er sich an die Tempolimits hielt, keine Dreiviertelstunde mehr brauchen.
Martha war ein paar Stunden vor ihm aufgebrochen. Zusammen gefrühstückt hatten sie nicht. Von seinem Hotelzimmer aus hatte er ihrem Mercedes nachgeschaut, bis dieser hinter einem Hügel verschwand.
Sie hatte ihm keine Telefonnummer gegeben, keine Mailadresse, nichts. Er kannte nicht einmal ihren Nachnamen. Das gehörte dazu, hatte sie ihm heute Nacht zugeflüstert, zu ihrem Traum. Im Traum wollte sie ihn wiedersehen, aber nur im Traum, nicht in der Wirklichkeit. Denn wenn sie einander öfter sähen, würden sie sich aneinander binden, und dann würde es auf ein großes Elend hinauslaufen. Dann würde ihr Traum sich in einen Alptraum verwandeln.
Maier seinerseits hatte es auch nicht auf eine langfristige Beziehung zu einer verheirateten Frau mit Kindern abgesehen. Er war nicht einmal auf einen One-Night-Stand aus gewesen. Trotzdem verspürte er eine gewisse Enttäuschung darüber, dass es sie keinerlei Mühe gekostet hatte, sich von ihm zu lösen.
Gekränktes Ego? Oder war es eher Eifersucht? Im Gegensatz zu Maier wusste Martha anscheinend genau, was sie mit ihrem Leben anstellen wollte. Als sie ins Auto gestiegen war, hatte sie ein Ziel am Ende ihrer Fahrt vor sich gehabt: ihren Mann, ihre Kinder, ihre Familie, ihre Freunde und ihre Arbeit. Einen klar durchstrukturierten Alltag, der ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen würde.
Er selbst hatte seine Prioritäten noch immer nicht gesetzt. Aber in Kürze, so hoffte er, würde er das getan haben.
Eines wusste er genau: Susan war noch lange nicht passé. Er fragte sich ernsthaft, ob sie es jemals wäre.
Er tippte auf die Taste zum Einschalten des CD-Players und zappte verschiedene Titel durch, bis die Anfangstöne von Science aus den Boxen erklangen. Drehte die Lautstärke so weit auf, dass das Motorgeräusch kaum noch zu hören war. Rasch wurden seine Gedanken von den Gitarrenklängen und dem eindringlichen Gesang von System of a Down übertönt.
Im Zweifelsfall Gas geben.
Noch achthundertneunzig Kilometer lang.
28
Die Alarmsirene hörte gar nicht wieder auf. Sie stürzte die Treppe hinunter. Ihre Schritte hallten im Treppenhaus nach, immer schneller und schneller, bis sie in den Keller kam. Sie schaute sich um. Kein Ausgang. Alles dunkel. Ein Summen.
Hier war sie nie zuvor gewesen.
Der Raum sah alt aus, voll von Spinnweben, Staub und dicken, verrosteten Rohren, kreuz und quer an der Decke. Das Kellergeschoss hatte es schon immer gegeben, wurde ihr klar, und es hatte nur darauf gewartet, dass sie hinabsinken, zu Staub zerfallen und unter der schweren Last des Gebäudes allmählich in Vergessenheit geraten würde.
Aber jetzt war sie hier. Schaute gehetzt den langen, dunklen Flur mit geschlossenen Türen entlang. Links und rechts, überall Türen. So viele Möglichkeiten.
Wohin?
Wo kam eigentlich diese Scheißsirene her? Das musste aufhören, es machte sie verrückt.
Kerzengerade fuhr Joyce im Bett hoch. Schaute sich verwirrt um. Die Vorhänge waren zugezogen, aber draußen war es hell. Ein Krankenwagen war vorbeigefahren. Der Lärm der Sirene ebbte allmählich ab.
Sie betastete ihr geschwollenes linkes Auge, das zweifellos eine breite Skala an Violettschattierungen aufwies. Schlaftrunken drehte sie den Kopf zum Wecker und war plötzlich hellwach.
Halb sechs Uhr abends.
Sie hatte in voller Montur auf der Decke geschlafen: Jeans, T-Shirt und eine Weste, lauter saubere Klamotten, die sie heute Morgen frisch angezogen hatte, nachdem sie die blutigen in die Waschmaschine gesteckt und sich geduscht hatte. Eigentlich hatte sie sich nur eine Stunde aufs Ohr legen und ein kleines Nickerchen machen wollen, danach ein paar Telefonate führen. Sie konnte es kaum fassen, dass sie den ganzen Tag durchgeschlafen hatte, ohne zwischendurch auch nur kurz wach zu werden.
Vage erinnerte sie sich an die schneidende Alarmsirene aus ihrem Traum und hob ihr Handy vom Boden auf. Vier verpasste Anrufe und zwei Nachrichten, gerecht verteilt zwischen Henriette und Jim.
Während sie in die Küche ging, um Kaffee aufzusetzen, rief sie Henriette an. Henriette war die feste Kontaktperson der CIE bei Visa. Joyce hatte sie gestern schon angerufen, mit der Bitte, die letzten Zahlungsvorgänge von Sil Maier auszudrucken und sie dann sofort zurückzurufen, auf ihrem Handy.
»Henriette? Hier ist Joyce, CIE
Weitere Kostenlose Bücher