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Verschleppt

Verschleppt

Titel: Verschleppt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verhoef & Escober
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Stimme. »Wadim. Du weißt, dass ich dich nicht einfach so anrufen würde. Nicht mehr, seit … naja, seit letztem Mal. Aber ich habe einfach kein gutes Gefühl dabei. Ich bin …« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Verdammt, mir geht das total gegen den Strich.«
    »Okay. Verstanden. Gib mir ein bisschen Zeit, was Neues zu regeln.« Im Aufstehen schob Wadim seinen Stuhl zurück. Legte die Hände flach auf den Tisch. »Aber was du auch immer bis dahin machst, mein Freund: Du behältst sie gefälligst bei dir. Wenn die weg ist, dann hast du nämlich ein echtes Problem.«
     

43
     
    Maier schob den Rollstuhl über die holprige Straße. Es ging nicht so flott, wie er es sich gewünscht hätte. Wenn man in einem komfortablen Auto saß, wirkte der Weg ins Dorf ziemlich eben. In Wirklichkeit aber fielen die Seitenränder steil ab, und große Brocken Asphalt vermischten sich mit dem roten Lehm und den kleinen Steinen der Böschung. In der Mitte der Straße zu gehen, war unmöglich. Die entgegenkommenden Autos drosselten kaum ihr Tempo, sodass man in deren Windschatten immer ein wenig zur Seite gedrückt wurde. Flints Wollschal flatterte ihm um die knochigen Schultern.
    Sie waren knapp eine halbe Stunde unterwegs. Maier fühlte sich etwas planlos mit dem Spaziergang. Schließlich hatte er Flint gerade erst kennengelernt. Jetzt die sprichwörtlichen Runden im Park zu drehen, als wäre er wöchentlich bei dem alten Mann zu Besuch, kam ihm unangebracht vor. Und so alt war der Mann nicht einmal. Krank, das schon, krank und ausgezehrt. Aber in diesem einst starken und muskulösen, nun erschöpften und frühzeitig verschlissenen Körper, der anderen Respekt eingeflößt hatte, steckte ein scharfsinniger und wacher Geist.
    Leberkrebs, hatte Flint ihm soeben erzählt. Mit zahllosen Metastasen. Nichts mehr zu machen. Er hatte sich damit versöhnt, und mehr wollte er dazu nicht sagen. Worte daran zu verschwenden, empfand er als Vergeudung der knappen Zeit, die ihm noch blieb.
    Zunächst eine Pflichtübung, hatte sich die Wanderung am Fuße des Mont Sainte Victoire erstaunlich schnell in etwas anderes verwandelt: Er durfte den Rollstuhl seines Vaters schieben, seines einzigen Angehörigen, und dieser war über seine Gesellschaft und den Spaziergang an der frischen Luft sichtlich erfreut. Die großen Hände gefaltet im Schoß. Das Kinn gehoben. Augen, die noch alles sahen.
    »Wann und wie bist du eigentlich hier gelandet?«, fragte Maier.
    »In Puyloubier?«
    »Nein, das kann ich mir schon denken. Ich meine, in der Fremdenlegion.«
    »Als ich alles dermaßen versaut hatte, dass ich keinen Ausweg mehr sah, hab ich mich gemeldet. Fünf Jahre durfte ich dabei sein. Danach konnte ich neu entscheiden, und ich habe mich wieder für volle fünf Jahre verpflichten lassen.«
    »Und warum?«
    »Du bekommst eine Struktur vorgegeben. Du kriegst etwas zu tun, sodass du keine Dummheiten aushecken kannst. Genau das brauchte ich. Man strebt immer nach Freiheit, Freiheit wird als das höchste Gut gesehen, aber letztlich ist Freiheit kein Glück, sondern eine Last. So war es jedenfalls für mich. Ich habe mich selbst verrückt gemacht.«
    »Inwiefern?«
    Flint schüttelte den Kopf. Schwieg.
    »Womit denn?«, drängte Maier.
    »Diese Rastlosigkeit.«
    Maiers Augen verengten sich. »Rastlosigkeit«, wiederholte er leise. Anscheinend hatte er mit dem Mann weit mehr gemein als bloß ein paar typische Merkmale wie blaue Augen und dunkle Haare.
    »Ich weiß nicht, wie ich es sonst umschreiben soll«, fuhr Flint fort. Er hob die Stimme, um besser verstanden zu werden. »Bindungsangst. Nicht zu lange an ein und demselben Ort bleiben wollen. Sich schnell langweilen. Immer wenn es aussah, als wäre ich gerade ein bisschen angekommen, stellte ich alles wieder auf den Kopf. Ich ging immer bis an die Grenzen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Nur war es mir damals nicht bewusst. Erst in der letzten Zeit ist mir klar geworden, wie viel ich falsch gemacht habe.« Er drehte seinen Rollstuhl ein Stück zur Seite und schaute Maier kurz und eindringlich an. »Ich habe Menschen wehgetan, Silvester. Ihnen das Leben vergällt, ihnen und auch mir selbst. Das ist nichts, worauf man besonders stolz sein kann.« Er umfasste die Lehnen seines Stuhls und blickte wieder geradeaus. »Eigentlich ist alles ganz einfach. Du verliebst dich, heiratest, bekommst Kinder. Die Grundlagen bekommst du, wenn du etwas Glück hast, in den Schoß geworfen. Ein klar umrissenes,

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