Verschleppt
sicheres, deutlich erkennbares Ganzes, in dem du einen Platz einnimmst. Eine Funktion hast. Wenn man so etwas Schönes zugeworfen bekommt, muss man doch verdammt noch mal sein Leben danach ausrichten. Wenn man sich dem entzieht, sich losreißt und umherzustreifen beginnt, wird man mit der Freiheit und all diesen Entscheidungen, Richtungen, Möglichkeiten konfrontiert. Da dreht man durch. Dafür sind Menschen nicht gemacht. Beschränkung ist gesund. Und Struktur braucht man. Die Struktur einer Familie.«
»Oder einer Armee.«
Flint nickte. »Wenn man den Rest versaut hat, ja. Als Ersatz. Nicht dass du dich täuschst: Wir haben es hier unglaublich gut. Wir sind mehr als hundert Mann und haben es unglaublich gut. Für den Rest unseres Lebens täglich ein Frühstück und zwei warme Mahlzeiten, schönes Klima und gute medizinische Versorgung. Aber was hat man davon, wenn man immer nur an verdammte Trümmerhaufen zurückdenken kann? An Dinge, die man kaputt gemacht hat?«
»An Morde?«, stellte Maier in den Raum.
»Man wird hier nicht zur Kindergärtnerin ausgebildet«, sagte Flint in einem Ton, der nicht gerade zum Nachfragen einlud. »Und das Drogengeschäft ist auch alles andere als ein Wohltätigkeitsverein. Willst du Zahlen wissen? Ich hab den Überblick verloren.«
Ich auch! , wollte Maier schreien. Der Drang, alles herauszubrüllen, wurde Sekunde für Sekunde stärker. Diesem Mann – seinem Vater – zu erzählen, was er selbst alles ausgefressen hatte und warum. Er würde es begreifen, vielleicht als Einziger wirklich begreifen.
»Und du? Hast du Grund, stolz zu sein?«, fragte Flint.
»Worauf?«
»Auf dich selbst, auf Dinge, die du erreicht hast.«
»Vielleicht schon«, log Maier. Er würde es nicht erzählen. Ihn selbst würde es vorübergehend erleichtern, seinen Vater aber unnötig belasten. »Ich hatte eine große Softwarefirma. An Geld kein Mangel.«
»Schön. Den dicken Sportschlitten hast du also mit ehrlich verdientem Geld gekauft?«
»Ja.«
»Und spielt die Liebe eine Rolle?«
»Nicht mehr.«
»Nein?«
Maier schwieg.
»Weißt du, was ich mir gedacht habe, Junge?«, fuhr Flint fort. »Dass du gerade noch rechtzeitig gekommen bist. Das ist nicht jedem gegeben, rechtzeitig zu kommen. Meistens kommen die Leute zu spät. Das liegt ihnen mehr. Dinge hinauszuzögern, sie zu vermeiden. Reue und Schuldgefühle kommen häufiger vor als Stolz und Dankbarkeit. Das ist schlimm. Ich habe mein kurzes Leben vergeudet, weil ich dachte, ich bräuchte meine Freiheit. Das war Bullshit.« Der alte Mann drehte sich Maier zu, wobei der Rollstuhl leicht nach rechts kippte. Maier musste ihn zurechtstellen. »Vielleicht ist es für dich anders. Es wäre schön, wenn es bei dir anders läuft. Wenn du dich besser durchschlägst als ich. Wenn das Gedankenkarussell im Kopf auch positive Erinnerungen mit sich bringt, bevor du einschläfst und bevor alles definitiv zu Ende geht. Fröhliche Bilder.«
Ohne es zu merken, waren sie bei dem Friedhof herausgekommen, der zwischen dem Anwesen der Fremdenlegion und dem Dorf lag. Seit seiner Ankunft war Maier schon mehrmals daran vorbeigefahren, ohne ihm Beachtung zu schenken.
Flint deutete mit dem Arm nach links. »Komm, hier entlang.«
Die Einfahrt zu dem Friedhof war leicht abschüssig. Maier griff den Rollstuhl etwas fester. Die Gräber waren von einer hohen Hecke umsäumt, die den letzten Ruheplatz der Fremdenlegionäre von dem sandigen Parkplatz davor abtrennte. Alte Nadelbäume mit schweren, tiefhängenden Zweigen warfen fleckige Schatten über das Grundstück.
Sie kamen zu einem Zaun. In der Mitte befand sich ein Eingang, ein hohes Tor, verriegelt mit einem auffällig großen Kettenschloss.
Schweigend schob Maier den Rollstuhl direkt davor, stellte eine der Bremsen fest und trat neben seinen Vater. Der soundsovielste Friedhof, schoss es ihm durch den Kopf. Er zog die Nase hoch und versuchte, sich zusammenzureißen. Sah Flint an, der vor sich hin starrte, auf einen Punkt irgendwo oberhalb des Aschepfads und der zahllosen, ordentlich nebeneinander aufgereihten Grabplatten.
»Das ist die Sicherheit, die wir hier haben«, hörte Maier ihn sagen. »Dass wir alle früher oder später an diesem Ort liegen werden. Für mich wird es nicht mehr lang dauern.« Flint ergriff Maiers Hand und zog ihn kraftvoll zu sich. Er hob den Kopf. Der Blick des Kranken bohrte sich in Maiers Seele. Seine Stimme zitterte leicht, als er sagte: »Weißt du, was ich immer gehofft habe, Junge?
Weitere Kostenlose Bücher