Verschleppt
oberflächliche Schnittverletzungen, aber all das hatte nichts zu bedeuten. Was sie taten, taten sie freiwillig.
Behaupteten sie.
Also kam jedes einzelne dieser Arschlöcher ohne Strafe davon.
Die Frauen, deren Papiere nicht in Ordnung waren, wurden als illegale Prostituierte angesehen und abgeschoben. Wenn sie Pech hatten, wurden sie in ihren Heimatländern – Rumänien, Bulgarien, Litauen, Russland – gleich am Flughafen von einem bestochenen Zollbeamten abgefangen und von ihren »Eigentümern« wieder abgeholt. Dann wurden sie entweder gleich zur Arbeit zurückgeschickt oder weiterverkauft, diesmal aber nach Italien, Belgien oder Skandinavien. Bedarf an Sexsklavinnen gab es überall.
Jim hatte ihr so oft gesagt, dass sie sich dagegen abschotten musste. Dass sie irgendwann durchdrehen würde, wenn sie das nicht bald lernte. Er arbeitete im Krankenhaus in der Ersten Hilfe, und er hatte es so oft erlebt, dass Menschen ihm unter den Händen wegstarben, dass es fast schon zur Routine geworden war. Nähme er sich jeden Toten so zu Herzen, könnte er kein normales Leben mehr führen.
Joyce lag diese Art zu denken nicht. Sie war anders gestrickt. Wie sollte sie ihren Spaß haben, wenn sie wusste, dass gleichzeitig so viele Frauen – und oft waren es noch junge Mädchen – Todesängste auszustehen hatten?
Sie hatte sie zu schützen, das war ihr Job. Die Kerle zu fassen und dafür zu sorgen, dass sie eingebuchtet wurden. Doch stattdessen lachten die ihr ins Gesicht.
»Es sind Arschlöcher, Maier. Sie kennen das Gesetz, und sie wissen genau, was sie sich erlauben können und was nicht. In den meisten Fällen haben sie für ihr ›Personal‹ Arbeitsgenehmigungen und Visa besorgt, die sie vorlegen können. Und die Mädchen selbst haben zu viel Angst, um mit uns zu reden. Die passen gut auf. Du kannst sie verhören, wie du willst, sie blicken starr auf ihre Zehenspitzen und streiten alles ab.« Sie gab ein Schnauben von sich. »Einmal hab ich ein junges Mädchen vernommen, das eindeutig schwanger war. Sie behauptete, es wäre von ihrem Freund, aber als wir genauer nachfragten, fiel die Geschichte wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Sie hatte gar keinen Freund und war außerdem schon seit sieben Monaten in den Niederlanden, also musste es von einem Kunden sein. Und weißt du, wie alt sie war? Vierzehn! Ein Kind! Und mir blieb nichts übrig als sie ausweisen zu lassen, hopp, zurück nach Rumänien. Obwohl ich genau wusste, dass sie dort auch nicht sicher war. Diese Frauen sind nicht Menschen, sondern Handelsware. Sie haben keine Rechte.« Streitlustig hob sie das Kinn, und ihre Augen funkelten. »Ich bin es leid. Ich bin dieses Pack so dermaßen leid, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Die Welt wäre um einiges besser, wenn darin keine Monster wie Kalojew mehr herumlaufen würden.«
»Die Welt ist groß und böse«, bemerkte Maier. »Aber was habe ich mit alldem zu tun?«
Joyce wandte den Kopf ab und schaute zu dem Bett hinüber, das auf einen Felsvorsprung montiert war und von zahllosen Spots mit niedriger Wattzahl indirekt erleuchtet wurde. Erst vor zwei Monaten hatte sie selbst noch darin geschlafen, bei ihrem letzten Besuch in Puyloubier.
»Ich habe aus verschiedenen Gründen bei der Polizei angefangen«, sagte sie leise. »Vielleicht war es naiv von mir, aber einer der Gründe war, dass ich zu einer sichereren Welt beitragen wollte. In Wirklichkeit tun wir verdammt wenig dafür. Wir halten Sitzungen ab, ersticken in Papierkram, schlagen uns mit hinterwäldlerischen Vorschriften, politischer Willkür und externen Zielvorgaben herum. Wir müssen über alle Schritte, die wir unternehmen, Rechenschaft ablegen, und wir dürfen noch nicht mal mit denselben Waffen kämpfen wie unsere Gegner. Und wenn wir es doch mal geschafft haben, die Typen an den Eiern zu packen, kriegen sie eine Strafe auferlegt, die in keinem Verhältnis steht zu dem Leid, das sie anderen zugefügt haben. Zu den Leben, die sie kaputt gemacht haben. Ich rede hier von Typen, die …« Sie atmete tief durch. Ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt. Ganz ruhig, Joyce, ruhig, ruhig. Sie atmete noch einmal tief durch, und als sie fortfuhr, klang ihre Stimme eine Oktave tiefer. »Lass mal, vergiss es. Es geht nur darum, dass ich es satt habe, mich an die Regeln zu halten, denn die bringen gar nichts. Ich will handeln. Ich will meine Ausbildung, meine Kenntnisse und Fähigkeiten verdammt noch mal endlich für etwas Nützliches einsetzen, zum
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