Verschleppt
Susan zu verbergen: Abscheu, der rasch in Mitleid umschlug.
Susan schlug die Augen nieder. In der letzten Zeit kamen öfter Mädchen zu ihr, um einen Blick auf sie zu werfen. Sie sprachen sie nicht an, grüßten sie nicht einmal, sondern musterten sie aus einem gewissen Abstand heraus wie ein Tier im Zoo – ein Tier, dem irgendetwas fehlt. Dann murmelten und tuschelten sie untereinander, und beim kleinsten Laut, der von unten kam, schlossen sie schnell und leise die Tür und stoben in alle Richtungen auseinander.
Hyäne Robby hatte sich schon seit ein paar Tagen nicht mehr blicken lassen. Ein leicht dunkelhäutiger Kerl mit Eintagesbart hatte seine Aufgabe übernommen. Er hatte dieselbe Statur wie Robby – breitschultrig und imponierend –, doch im Gegensatz zu seinem Vorgänger konnte er ihrer Situation offensichtlich wenig Vergnügen abgewinnen. Er ging nicht vor ihr in die Hocke, wenn sie pinkelte. Er schaute ihr nicht mal dabei zu. Ihr Brot bekam sie einfach in den Mund geschoben, dann wartete er, bis sie ihn wieder öffnete, um ihr den nächsten Bissen zwischen die Lippen zu stecken. Auch dabei wandte er den Blick ab, als wäre er eigentlich lieber woanders und in Gedanken schon mal dorthin abgezogen.
Das ließ Susan wieder durchatmen. Sie konnte nur hoffen, dass Robby gar nicht mehr wiederkam, dass er samt seinen Hyänenaugen unter einen Zug geraten und sein Schädel in tausend Stücke zertrümmert worden war.
Die junge Frau im Türrahmen hatte knallrotes Haar und trug einen kurzen schwarzen Rock. Sie schloss die Tür hinter sich und kam mit nervösen kleinen Schritten näher. Susan konnte ihr Parfüm riechen, vielleicht war es auch Talkumpuder oder Shampoo.
Sie kniete sich hin und strich Susan die Haare aus dem Gesicht. Einzelne Strähnen, die an Stirn und Schläfen klebten, löste sie geduldig. » I am so sorry they did this to you. Manchmal können sie wirklich richtige Arschlöcher sein.« Sie warf einen kurzen Blick zur Tür, als hätte sie Angst, gehört zu werden.
» Untie me – du musst meine Fesseln lösen, bitte«, flüsterte Susan. »Ich muss hier weg. Sie wollen mich umbringen.«
»Ganz ruhig. Du wirst weggebracht. Woandershin. Vielleicht ist es da besser.«
Susan blickte alarmiert auf. »Woandershin?«
»Du sollst morgen abgeholt und irgendwo anders hingebracht werden.«
Vor Schreck setzte Susans Herz einen Schlag aus. »Sie werden mich umbringen«, stieß sie hervor.
Die junge Frau schüttelte den Kopf. Ihre hellbraunen Augen waren mit Lidschatten in allerlei Grautönen theatralisch verziert. Das ließ sie ein bisschen älter aussehen, als sie wohl in Wirklichkeit war – höchstens achtzehn.
»Es geht um meinen Freund«, fügte Susan hinzu. »Meinen Exfreund. Sil Maier. Sie wollen über mich an ihn herankommen.« Sie zerrte an den Kabelbindern und dem Heizungsrohr. Die Wunden an ihren Handgelenken fingen wieder zu bluten an.
»Nicht!« Die Frau griff nach Susans Unterarmen und versuchte sie festzuhalten. »Hör auf, du verletzt dich selbst.«
Susan hörte nicht auf sie, kämpfte sich ab, wand sich auf der Matratze und rief: »Bitte! Befrei mich. Du siehst doch, was sie mit mir machen! Du siehst es doch!«
Die junge Frau drückte Susans Unterarme ganz fest zusammen. »Hör auf damit, sonst hören dich die Männer! Hör auf!« In ihrer Stimme klang Angst durch. Panisch blickte sie zur Tür.
Susan bemerkte es und verstummte abrupt. Das Letzte, was sie wollte, war, dass dieser Wadim wiederkam und ihr eine weitere Abreibung verpasste. Atemlos und zitternd versuchte sie sich zu beruhigen. Es gelang ihr nur halb.
»Gut so. Ganz ruhig.« Die junge Frau strich ihr über die Wangen und Schläfen. Die Berührungen ihrer kühlen, glatten Hände hatten eine beruhigende Wirkung.
»Dies ist ein Bordell, oder?«, fragte Susan schließlich.
Die Antwort war ein kurzes Nicken.
»Findest du es nicht sonderbar, dass zu mir nie irgendwelche Männer kommen? Einfach nie?«
»Sprich bitte etwas leiser«, flüsterte sie. »Es steht jemand auf dem Flur.«
Susan flüsterte so leise sie konnte: »Sie kommen hier nur rein, um mir Essen zu bringen und Fragen zu stellen. Und um mich zu verprügeln. Du musst mir helfen, bitte. Ich weiß genau, dass sie mich umbringen wollen.«
Auf dem Flur wurde etwas gerufen. Es klang wie ein unwirscher Befehl.
Die Frau ließ Susan los und sprang auf. »Ich kann nichts für dich tun, sorry. Nicht so was. Ich soll dich waschen, so kannst du nicht
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