Verschleppt
die ultimative Machtausübung. Ein krankhafter und unaufhaltsamer Drang, über Leben und Tod zu herrschen. Und so entstand eine lebensgefährliche, beängstigende Situation, die immer brenzliger wurde, je höher der Intelligenzquotient des Täters war.
Der pure Selbsterhaltungstrieb hatte Joyce bislang davon abgehalten, sich Maier zu erkennen zu geben. Denn so viel sie auch über ihn zu wissen meinte – im Ernstfall wusste sie gar nichts. Was ihr an Informationen zur Verfügung stand, waren Daten, Fotos, Filme, sein Aktionsradius, seine Kontobewegungen und seine Einkäufe per Kreditkarte. Weil sie seine Mails las, wusste sie auch, dass er ein fehlerfreies Niederländisch schrieb und seine Nachrichten – außer an Susan – sachlich und kurz hielt. Und dass er genau wie sie selbst wenig Talent dafür besaß, etwas am Leben zu erhalten. Die Menschen in seinem Umkreis gingen genauso schnell drauf wie die Zimmerpflanzen bei ihr zu Hause. Trotzdem war niemand von ihren Kollegen, weder bei ihrer eigenen noch bei einer anderen Einheit, je auf die Idee gekommen, sich mal ein paar Gedanken über diesen Sil Maier zu machen und Ermittlungen gegen ihn aufzunehmen. Das sagte etwas über ihre Kollegen, aber vor allem sagte es etwas über Maiers Kapazitäten. Sehr viel sogar.
Wäre sie nicht vorübergehend zur CIE beordert worden, zur Rechercheabteilung, hätte sie das Foto von Susan Staal nie zu Gesicht bekommen. Dann könnte sie sich jetzt noch immer in der Gewissheit wiegen, dass Maier von ihr nichts wusste und ihr folglich auch nichts antun konnte oder wollte.
Aber sie hatte das Foto nun einmal gesehen. Hinzu kam, dass sie von Männern wie Maxim Kalojew und dem, wofür sie standen, die Nase voll hatte, gestrichen voll. Sie war inzwischen bereit, Risiken einzugehen und es mit den Regeln nicht mehr so genau zu nehmen.
Alles passte zusammen. Dass es sich so nahtlos und mit solch einer gnadenlosen Präzision aneinanderfügte, war kein Zufall.
Es war ein Zeichen.
Sie schaute erneut auf ihre Armbanduhr. Viertel nach acht.
»Musst du noch irgendwohin?«
Joyce sah erschrocken auf. »Wie bitte?«
»Es scheint dir ziemlich wichtig zu sein, wie spät es ist.« Er warf einen Blick auf die gläserne Schiebewand. Draußen war es dunkel, die Scheibe wirkte nun wie ein Spiegel.
Joyce sah sich selbst dasitzen: gerader Rücken, die Beine unter dem Stuhl verschränkt. Ihr einer Fuß flitzte unablässig vor und zurück – ein Nerventick.
»Ich bin alleine hier«, sagte sie.
»Um mir diese Fotos zu zeigen? Ich verstehe eigentlich nichts davon, aber ich glaube nicht, dass du damit irgendwelche Preise gewinnst. Die sind ja nicht mal scharf.«
»Das Motorrad war auf deinen Namen registriert. Auf deine Adresse.« Sie umfasste ihren Becher mit beiden Händen. »Die meisten Leichen haben die Halunken selbst weggeräumt. Die übrigen, über die wir dann gestolpert sind, hatten zufällig Schusswunden, die den Kollegen von der Wundballistik zufolge alle von derselben Waffe herrührten. So gut wie sicher eine .45er. Schönes Kaliber.«
Maier nahm einen Schluck Kaffee. Unter dem Eintagesbart bewegte sich sein Adamsapfel auf und ab. »Kann sein.«
»Die schlechte Neuigkeit dürfte dann ja wohl klar sein: Wir sind über deine Aktivitäten im Bilde. Wir haben dich seit etwa anderthalb Jahren im Visier und wissen im Großen und Ganzen, womit du beschäftigt bist. Bei einigen Einzelfällen kennen wir auch die Details.«
Er legte beim Zuhören ein gewisses Desinteresse an den Tag. Als langweilte ihn ihre Geschichte, als hätte sie sich auf einer Geburtstagsfeier neben ihn gesetzt und würde jetzt lang und breit über irgendwelche Leute palavern, die er nicht kannte.
Joyce ließ sich nicht entmutigen. »Bevor ich mit der Arbeit in Eindhoven angefangen habe«, fuhr sie fort, »gehörte ich zu einem Team, das mit Frauenhandel zu tun hatte. Du bist unübersehbar auf der Bildfläche erschienen, als du dich beim Club 44 eingemischt hast. Du hast den Laden lange observiert, vor allem von der Kneipe schräg gegenüber vom Vordereingang aus. Ich und ein paar Kollegen waren auch öfter dort. Du warst immer allein, grundsätzlich. Mit Schnurrbart und Brille, kaum wiederzuerkennen. Nicht schlecht. Wenn du mir nicht schon vorher aufgefallen wärest, hättest du mich mit der Verkleidung tatsächlich an der Nase herumgeführt.« Sie ließ eine Pause entstehen. Sie suchte seinen Blick. Er sah sie noch immer ungerührt an. »Soll ich weitererzählen, Maier?
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