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Verschwiegen: Thriller (German Edition)

Verschwiegen: Thriller (German Edition)

Titel: Verschwiegen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Landay
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eingenommen. Beim Verlassen der Kneipe kam es zu einem Vorfall: Ein Auto, das eben aus der Parklücke fuhr, eckte an der Vorderseite von Rustys Buick Special an. Es kam zum Streit, zu Handgreiflichkeiten. Der andere zückte ein Messer. Als alles vorbei war, lag der Mann auf der Straße, und Rusty entfernte sich, als ob nichts gewesen wäre. Der Mann erhob sich, beide Hände vor den Bauch gepresst. Durch seine Finger sickerte Blut. Er öffnete sein Hemd und hielt dabei eine Hand vor den Bauch, als hätte er dort Schmerzen. Als er sie endlich entfernte, fielen dicke ineinander verschlungene Darmschlingen heraus. Sein Bauch war vom Becken bis zum den unteren Rippen aufgeschlitzt. Der Mann schob seinen Darm mit den Händen in den Bauchraum zurück, hielt ihn dort fest und ging ins Lokal, um die Polizei zu rufen.
    Das Gesetz kannte kein Pardon: versuchter Mord, schwere Körperverletzung, Körperverletzung mit einem lebensgefährlichen Gegenstand. Vor Gericht bestand er auf seinem Recht auf Notwehr, doch gestand er zu seinem Unheil ein, dass er sich an nichts von alldem erinnerte, was ihm die Anklage vorwarf, auch nicht daran, wie er dem Mann das Messer abgenommen und ihm den Bauch aufgeschlitzt hatte. Seine Erinnerung setzte in dem Augenblick aus, als der Mann mit dem Messer auf ihn losgegangen war. Er wurde zu einer Haftstrafe zwischen sieben und zehn Jahren verurteilt, davon saß er drei ab. Als er wieder nach Meriden zurückkehrte, war sein ältester Sohn, mein Vater Billy Barber, achtzehn Jahre alt und väterlichen Erziehungsversuchen entwachsen, selbst wenn sie von einem so rundum beeindruckenden Mann kamen wie Rusty.
    Und hier kommen wir zu dem Teil der Geschichte, wo alles verschwommener und ungewisser wird. Denn ich habe keine wirklichen Erinnerungen an meinen Vater aus jener Zeit, nur Bruchstücke …
    … ein unscharfes Tattoo an der Innenseite seines rechten Handgelenks, ein Kreuz oder ein Dolch, es stammte aus irgendeinem Gefängnis …
    … seine Hände, bleiche knochige Krallen mit roten Knöcheln, als Mordinstrumente durchaus vorstellbar …
    … sein Mund voller langer, gelber Zähne …
    … ein gebogenes Messer mit Perlmuttgriff, das er jeden Morgen am Rücken zwischen Gürtel und Hose schob, so wie andere Männer ihre Brieftasche, und es dort immer mit sich herumtrug …
    Doch von diesen Eindrücken einmal abgesehen, kann ich mich nicht an ihn erinnern. Und denen traue ich auch nicht wirklich, denn ich hatte Jahre, um sie mir auszumalen. Ich sah meinen Vater das letzte Mal im Jahr 1961, da war ich fünf und er sechsundzwanzig. Als kleiner Junge habe ich lange Zeit versucht, meine Erinnerung an ihn zu bewahren, um zu verhindern, dass er einfach verschwand. Da hatte ich noch nicht begriffen, wer er war. Über die Jahre löste er sich ohnehin in Nebel auf. Als ich etwa zehn war, waren meine Erinnerungen vage, und es gab nur noch diese wenigen verstreuten Eindrücke. Kurz danach hörte ich auf, überhaupt an ihn zu denken. Weil es einfacher war, lebte ich so, als ob ich keinen Vater hätte, als ob ich vaterlos in diese Welt gekommen wäre. Und ich hinterfragte meine Einstellung nicht, weil davon nichts Gutes zu erwarten war.
    Doch eine Erinnerung blieb hängen, wenn auch nur verschwommen. Irgendwann in jenem Sommer im Jahr 1961 nahm meine Mutter mich auf einen Besuch im Gefängnis an der Whalley Avenue in New York mit. Wir saßen an einem der schartigen Holztische in dem überfüllten Warteraum. Die Insassen in ihren weiten Gefängnislatzhosen und gestreiften Jacken sahen alle aus wie die flachen, eckigen Bleistiftmännchen, wie sie meine Freunde und ich zu Papier brachten. Ich muss an jenem Tag verschreckt gewesen sein – man musste sich in seiner Nähe in Acht nehmen –, denn mein Vater wollte mich aus der Reserve locken. »Komm her und lass dich anschauen.« Mit seiner Hand umklammerte er meinen Oberarm und zog mich zu sich. »Komm her, du bist den ganzen Weg hierhergekommen, um mich zu besuchen, jetzt komm endlich her.« Noch Jahre später fühlte ich diesen Griff, der meinen Arm drehte, so wie man ein Hühnerbein vom Rumpf löst.
    Er hatte etwas Furchtbares angestellt. Das wusste ich. Keiner der Erwachsenen wollte mir sagen, worum es sich genau handelte. Es ging um ein Mädchen und eines der leeren, vernagelten Reihenhäuschen an der Congress Avenue. Um das Messer mit dem Perlmuttgriff. Das war der Teil, bei dem die Erwachsenen dann in Schweigen verfielen.
    In jenem Sommer endete meine Kindheit. Ich

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