Verschwiegen: Thriller (German Edition)
lernte das Wort »Mord«. Doch es reicht nicht aus, ein so großes Wort zu erfahren, man muss damit leben lernen, lernen, es mit sich herumzutragen. Man muss es umrunden, es aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, zu unterschiedlichen Tageszeiten und bei wechselnden Lichtverhältnissen, bis man es begreift und verinnerlicht. Jahrelang kann man nichts anderes tun, als dieses Wort still und leise in sich zu halten, wie der Pfirsich seinen hässlichen Stein.
Wie viel Laurie davon wusste? Nichts. Mir war vom ersten Augenblick an klar, dass sie ein nettes jüdisches Mädchen aus einer netten jüdischen Familie war und mich nicht eine Sekunde lang in Betracht zöge, wenn sie die Wahrheit erfahren würde. Und so erzählte ich in vagen und romantischen Umschreibungen von dem verwegenen Ruf meines Vaters, den ich niemals gekannt hätte. Ich selbst sei das Resultat einer kurzen und unglücklichen Affäre. So standen die Dinge während der nächsten fünfunddreißig Jahre. In Lauries Augen war ich im Grunde vaterlos. Ich habe ihr niemals etwas anderes erzählt, denn es stimmte, ich betrachtete mich als vaterlos. Auf keinen Fall war ich der Sohn von Bloody Billy Barber. Daran war nichts Dramatisches. Als ich meiner Freundin und späteren Ehefrau erzählte, dass ich meinen Vater nicht kannte, sprach ich lediglich laut aus, was ich mir während der ganzen Jahre eingeredet hatte. Ich habe sie nicht in die Irre geführt. Und wenn ich denn tatsächlich jemals der Sohn von Billy Barber gewesen war, dann stimmte das, als ich Laurie begegnete, schon lange nicht mehr, von der rein biologischen Verwandtschaft einmal abgesehen. Na schön , werden Sie einwenden, aber es muss in all diesen Jahren doch einen Moment gegeben haben, in dem Sie ihr das hätten sagen können . Doch in Wirklichkeit wurde das, was ich Laurie erzählt hatte, mit der Zeit immer mehr zur Wahrheit. Als erwachsener Mann war ich noch weniger Billys Sohn. Es war alles nur noch eine Geschichte, irgendein ein alter Hut, der nichts mit der Person zu tun hatte, zu der ich geworden war. Ehrlich gesagt, habe ich mir nicht viele Gedanken darüber gemacht. Als Erwachsene hören wir irgendwann auf, Kinder unserer Eltern zu sein, und werden zu den Eltern unserer Kinder. Und außerdem hatte ich mein Mädchen. Ich hatte Laurie, und wir waren glücklich. Wir fanden in unserer Ehe zu einer liebevollen Routine, glaubten einander zu kennen und waren mit unserer Vorstellung vom jeweils anderen zufrieden. Warum sollte ich das aufs Spiel setzen? Warum sollte ich eine jener seltenen glücklichen Ehen riskieren – ja, eine Liebesheirat, die andauert, was ja noch seltener ist? Für etwas so Gewöhnliches und Gefährliches wie unbedingte, gedankenlose und umfassende Ehrlichkeit? Wem hätte meine Offenheit weitergeholfen? Mir selbst? Nein, wirklich nicht. Ich war aus Stahl, das kann ich Ihnen sagen. Und dann gibt es noch eine viel simplere Erklärung: Das Thema stand einfach niemals zur Debatte. Im Alltag gibt es einfach nicht den richtigen Moment, um der Ehefrau zu gestehen, dass man der Sohn eines Mörders ist.
Siebtes Kapitel
Leugnen
Mit einem hatte Logiudice recht: Ich hatte Jacob damals in Verdacht, aber nicht als Mörder. Die Version, die Logiudice der Jury einreden wollte (dass ich aufgrund meiner Familiengeschichte und wegen des Messers wusste, dass Jacob ein Psychopath sei, und ich ihn decken wollte) war blanker Unsinn. Ich nehme Logiudice seine Übertreibung nicht übel. Geschworene sind von Natur aus schwerhörig, und in diesem Fall, in dem die Umstände sie gleichsam zwangen, die Ohren zu verschließen, hörten sie noch schlechter. Logiudice blieb gar nichts anderes übrig, als zu schreien. Doch in Wirklichkeit war das Ganze nicht so dramatisch. Die Vorstellung, dass Jacob ein Mörder sein könnte, war einfach absurd, und ich habe sie damals nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Eigentlich dachte ich nur, dass Jacob uns etwas verschwieg. Sobald sich dieser Verdacht bei mir festgesetzt hatte, durchlebte ich alles in doppelter Funktion: als ermittelnder Staatsanwalt und als besorgter Vater, der eine der Wahrheit auf der Spur, der andere die Wahrheit fürchtend. Das band ich den Geschworenen nicht alles auf die Nase, denn auch ich wusste sehr gut, wie man erfolgreich übertreibt.
An dem Tag, als ich das Messer entdeckte, kam Jacob gegen halb drei von der Schule nach Hause. Laurie und ich hörten, wie er in die Diele polterte, gegen die Haustür trat, um sie zu schließen, und
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