Verschwiegen: Thriller (German Edition)
nabelte mich absichtlich von dieser ganzen üblen Sippschaft ab. Soweit ich wusste, oder besser, soweit ich es wissen wollte, führte der rote Faden bis zu meinem Urgroßvater zurück, einem schlitzäugigen Gauner namens James Burkett. Er kam aus North Dakota und barg einen animalischen bösartigen Gewalttrieb in sich, der immer wieder hervorbrach, bei ihm, bei seinem Sohn und vor allem bei seinem Enkel, meinem Vater.
James Burkett wurde um das Jahr 1890 in der Nähe von Minot, North Dakota, geboren. Die Verhältnisse in seiner Kindheit, seine Eltern, ob er irgendeine Schulbildung erhielt – ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nur, dass er in den Jahren nach der Schlacht am Little Big Horn, als die Grenzen gezogen wurden, in den High Plains von Dakota aufwuchs. Mein erstes wirkliches Beweisstück für die Existenz dieses Mannes war eine sepiafarbene Fotografie aus dicker Pappe. Das Bild wurde in New York am Mittwoch, den 23. August 1911, im H. W. Harrison Photographic Studio in der Fulton Street aufgenommen. Das genaue Datum der Aufnahme war auf der Rückseite des Fotos sorgfältig mit Bleistift vermerkt, dazu noch sein neuer Name, »James Barber«. Schon die Geschichte, die sich hinter diesem Ortswechsel verbarg, war verdächtig. Nach der Version, die ich hörte – von meiner Mutter, die sie ihrerseits von meinem Großvater väterlicherseits gehört hatte –, hatte sich Burkett nach einer Anklage wegen bewaffneten Raubüberfalls aus Dakota abgesetzt. Eine Weile versteckte er sich am Südufer des Lake Superior, wo er nach Muscheln suchte und auf Fischerbooten arbeitete, um sich dann unter neuem Namen auf den Weg nach New York zu machen. Warum er seinen Namen wechselte – um einem Haftbefehl zu entgehen oder mit einer neuen Identität einen Neuanfang an der Ostküste zu machen oder aus irgendeinem anderen Grund –, niemand wusste es mit Bestimmtheit. Noch hatte irgendjemand eine Erklärung dafür, warum mein Urgroßvater als neuen Nachnamen Barber wählte. Das einzige Beweisstück, das ich aus jener Zeit besaß, war dieses Foto. Es war auch das einzige Bild von James Burkett-Barber, das ich jemals zu Gesicht bekam. Als es aufgenommen wurde, war er um die zwanzig. Er ist schlank und sehnig, mit krummen Beinen, trägt einen geliehenen Mantel und hält einen Bowlerhut in der Armbeuge. Er kneift die Augen zusammen, während er in die Kamera blickt, seine Lippen sind zu einem frechen Grinsen verzogen und ein Mundwinkel nach oben verzerrt.
Ich nahm an, dass die Anklage in North Dakota schwerwiegender gewesen war als bewaffneter Raubüberfall. Burkett-Barber hatte sich einiges einfallen lassen, um ihr zu entgehen (ein zweitklassiger Gauner auf der Flucht hatte keinen Grund zu einer solch weiten Reise oder einer so vollständigen Verwandlung). In New York angekommen, zeigte er sofort seine Begabung für Gewalttätigkeit. Er brauchte keine Lehrzeit, er fing nicht wie ein Novize bei banaler Körperverletzung an und arbeitete sich dann nach oben, nein, er betrat die Bühne als ausgekochter Übeltäter. Sein New Yorker Strafregister umfasste Festnahmen wegen Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand, Raubüberfalls, versuchten Mordes, schwerer Körperverletzung, Besitz eines gefährlichen Gegenstands, Besitz einer Waffe ohne Waffenschein, Vergewaltigung und erneut versuchten Mordes. Zwischen seiner ersten Festnahme in New York State im Jahr 1912 und seinem Tod 1941 verbrachte James Barber fast die Hälfte seiner Tage im Gefängnis oder in Untersuchungshaft. Für allein zwei der Anklagen, Vergewaltigung und versuchter Mord, saß er insgesamt vierzehn Jahre hinter Gittern.
Es war das Strafregister eines Berufsverbrechers; die einzige Beschreibung von ihm, die in den Gerichtsakten existiert, macht das mehr als deutlich. Es geht um einen Mordversuch aus dem Jahr 1916, auf den ein routinemäßiger, in den New Yorker Gerichtsakten von 1918 protokollierter Einspruch folgte. Die Zusammenfassung des Falls, die Richter Burton bei der Urteilsbegründung abgab, ist nur wenige Sätze lang:
Der Angeklagte wurde in einer Bar in Brooklyn in einen Streit mit dem Opfer, einem Mann namens Payton, verwickelt. Bei dem Streit ging es um einen Betrag, den Payton entweder dem Angeklagten (laut Angeklagtem) oder jemandem schuldete, für den der Angeklagte als Schuldeneintreiber arbeitete (laut staatlichen Angaben). Im Verlauf des Streits griff der Angeklagte das Opfer in einem Wutanfall mit einer Flasche an. Er setzte seine Attacke
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