Verschwiegen: Thriller (German Edition)
gekonnt hätte, wäre ich jetzt aufgestanden und hätte Beifall geklatscht, denn genau das hatte ich ihm alles beigebracht. Warum nicht ein bisschen Vaterstolz empfinden? So schlecht kann ich nicht gewesen sein – Neal Logiudice hatte sich schließlich zu einem ganz ordentlichen Staatsanwalt gemausert.
»Na, nun mach schon weiter, Neal, hör auf mit dem ganzen Zirkus und fang an«, sagte ich mit einem komplizenhaften Nicken in Richtung Geschworene.
Er warf mir einen gereizten Blick zu, nahm seinen gelben Block wieder zur Hand und überflog seine Aufzeichnungen, um den Anschluss zu finden. Ich konnte gleichsam hören, wie es in seinem Gehirn ratterte: reizen, in die Enge treiben, fertigmachen. »Okay«, meinte er. »Also, was geschah nach dem Mord?«
Zweites Kapitel
Unsere Kreise
Zwölf Monate zuvor: April 2007
Als die Rifkins die Türen ihres Hauses für die Schiwa, das siebentägige Trauerritual der Juden, öffneten, kam, so schien es, die ganze Stadt. Die Familie sollte nicht alleine trauern: Die Ermordung des Jungen war eine öffentliche Angelegenheit und deshalb auch die Trauer um seinen Tod. Das Haus war voller Leute, und hin und wieder schwoll der allgemeine Geräuschpegel derart an, dass die Veranstaltung Partycharakter annahm, bis alle mit einem Mal gleichzeitig ihre Stimmen senkten, so als ob jemand die Lautstärke gedämpft hätte.
Ich zwängte mich zwischen den Leuten hindurch, setzte eine Miene des Bedauerns auf und entschuldigte mich nach allen Seiten.
Man sah mich mit merkwürdigen Blicken an. Jemand sagte: »Das ist er, das ist Andy Barber«, aber ich blieb nicht stehen. Der Mord lag vier Tage zurück, und jedermann wusste, dass ich den Fall übernommen hatte. Natürlich hätte man mich gerne ausgefragt, nach Verdächtigen, Hinweisen und so weiter, aber niemand wagte es. Die Einzelheiten der Ermittlungen spielten im Augenblick keine Rolle, nur die Tat selbst. Ein unschuldiger Junge war ermordet worden!
Ermordet! Die Nachricht war wie ein Schlag in die Magengrube. In Newton gab es so gut wie keine Verbrechen. Gewalt kam in den Nachrichten und in Fernsehserien vor. Gewaltverbrechen war Sache von Städtern, einer städtischen Unterschicht, von Asozialen. Natürlich lagen die Leute damit falsch. Sie wären auch weniger schockiert gewesen, wenn es sich um den Mord an einem Erwachsenen gehandelt hätte. Dass ein Kind aus unserer Stadt das Opfer war, machte diesen Mord zu einem Frevel. Das Image der Stadt hatte in den Augen der Bürger Newtons Schaden genommen. Eine Zeit lang hatte in der Stadtmitte ein Schild geprangt mit der Aufschrift »Eine Gemeinschaft für Familien, eine Familie für Gemeinschaften«, und sehr oft hörte man den Satz, dass Newton ein guter Ort sei, um Kinder großzuziehen. Das stimmte. An jeder Ecke gab es Angebote für Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe, Karateschulen und samstägliche Fußballspiele. Vor allem junge Eltern hielten das Ideal von Newton als einem Paradies für Kinder hoch. Viele von ihnen hatten das schicke, betriebsame Stadtleben hinter sich gelassen, um hier zu wohnen; hatten gewaltige Ausgaben, tödliche Langeweile und ein mulmiges Gefühl der Enttäuschung über ihre Anpassung an ein konventionelles Lebensmodell auf sich genommen. Das Vorstadtleben hatte nur deswegen einen Sinn, weil man dort gut Kinder großziehen konnte. Darauf hatten sie alles gesetzt.
Während ich die Räume durchschritt, ging ich an verschiedenen Gruppen von Leuten vorbei. Die Jugendlichen, die Freunde des toten Jungen, hatten sich im vorderen Teil des Hauses versammelt. Sie sprachen leise und starrten mich an. Bei einem Mädchen hatten die Tränen die Wimperntusche verschmiert. Mein Sohn Jacob lümmelte in einem niedrigen Sessel, schlaksig und ungelenk und abseits von den anderen. Er starrte sein Handydisplay an, die Gespräche um ihn herum interessierten ihn nicht.
Die trauernde Familie befand sich nebenan im Wohnzimmer, Großmütter, Kleinkinder.
In der Küche stieß ich endlich auf die Eltern der Kinder, die zusammen mit Ben Rifkin Newtons Schulen durchlaufen hatten. Das war unser Bekanntenkreis. Wir kannten einander, seit unsere Kleinen neun Jahre zuvor zum ersten Mal im Kindergarten erschienen waren. Wie oft waren wir morgens zusammengekommen, wenn wir die Kinder zur Schule brachten, und nachmittags, wenn wir sie wieder abholten, bei zahllosen Fußballspielen und Wohltätigkeitsveranstaltungen, bei einer denkwürdigen Schulaufführung von Die zwölf Geschworenen . Von ein
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