Verschwiegen: Thriller (German Edition)
die Augenpartie eines Waschbären.
»Hallo, Andy«, sagte er.
»Entschuldigen Sie. Ich war gerade auf der Suche nach meinem Mantel. Ich wollte Sie nicht stören.«
»Überhaupt nicht, setzen Sie sich doch.«
»Nein, nein, ich wollte nicht einfach so hereinplatzen.«
»Bitte setzen Sie sich, nehmen Sie Platz. Ich möchte Sie etwas fragen.«
Ich fühlte, wie ich schwach wurde. Ich habe die Leiden der Angehörigen von Mordopfern miterlebt. Meine Arbeit zwingt mich dazu. Die Eltern von ermordeten Kindern haben es am schwersten, die Väter meiner Meinung nach noch mehr als die Mütter. Denn von ihnen verlangt man, dass sie sich zusammenreißen, ihren Mann stehen. Untersuchungen haben ergeben, dass Väter von ermordeten Kindern oft nur wenige Jahre nach der Tat sterben, oft aufgrund von Herzversagen. In Wahrheit gehen sie an ihrer Trauer zugrunde. Irgendwann wird einem als Staatsanwalt klar, dass man diese Art von Schmerz ebenfalls nicht überleben wird. Man darf sich von den Vätern nicht anstecken lassen. Und so konzentriert man sich ganz auf die technischen Aspekte des Jobs. Man verwandelt ihn in ein Handwerk wie jedes andere. Der Trick besteht darin, sich das Leid der anderen vom Hals zu halten.
Doch Dan Rifkin war hartnäckig. Er winkte mit seinem Arm wie ein Verkehrspolizist, der Autofahrer zum Weiterfahren auffordert, und als ich sah, dass ich keine Wahl hatte, schloss ich leise die Tür und setzte mich auf den Stuhl neben ihm.
»Was zu trinken?« Er hielt einen Schwenker mit kupferfarbenem, edlem Whiskey hoch.
»Nein.«
»Gibt es was Neues, Andy?«
»Ich fürchte, nein.«
Er nickte und wandte sichtlich enttäuscht seinen Blick ab.
»Ich mochte dieses Zimmer immer. Ich komme hierher, wenn ich nachdenken will. Wenn etwas passiert wie das jetzt, dann verbringt man viel Zeit mit Nachdenken.« Er lächelte dünn: Mach dir keine Sorgen, alles in Ordnung .
»Das ist bestimmt wahr.«
»Ich frage mich nur die ganze Zeit: Warum hat dieser Typ das gemacht?«
»Dan, Sie sollten nicht …«
»Nein, hören Sie mir zu. Ich brauche, ich brauche wirklich niemanden, der mir die Hand hält. Ich bin rational veranlagt, das ist alles. Ich habe Fragen. Nicht, was die Einzelheiten angeht. Wenn wir, Sie und ich, uns bislang miteinander unterhalten haben, ging es immer nur um Einzelheiten: Beweise, gerichtliche Abläufe. Aber ich bin rational veranlagt, okay? Ich bin rational veranlagt, und ich habe Fragen. Andere Fragen.«
Ich sank auf meinen Stuhl zurück und fühlte, wie sich meine Schultern entspannten und ich ruhiger wurde.
»Ben war ein so netter Junge, wissen Sie. Das ist wichtig. Natürlich hat kein Kind einen solchen Tod verdient. Aber Ben war wirklich ein sehr netter Junge. Und noch ein Kind. Du lieber Himmel, er war gerade mal vierzehn! Hat nie Ärger gemacht. Nie, nie, nie. Also warum? Was war das Motiv? Ich rede nicht von Wut, Eifersucht, Habgier, diese Motive meine ich nicht. In diesem Fall kann es kein gängiges Motiv geben. Das kann nicht sein, das ergibt keinen Sinn. Wer könnte eine derartige Wut auf Ben gehabt haben, wie kann man eine solche Wut auf irgendeinen Jungen haben? Das alles ergibt einfach keinen Sinn.« Rifkin massierte mit der rechten Hand leicht seine Stirn. »Was ich mich frage, ist Folgendes: Was unterscheidet solche Leute von anderen? Denn natürlich habe auch ich schon diese Gefühle gehabt, diese sogenannten Motive, wie Wut, Habgier, Eifersucht, auch Sie werden sie schon empfunden haben, wie jeder von uns. Aber wir haben deswegen niemanden umgebracht. Verstehen Sie? Dazu wären wir gar nicht in der Lage. Aber bei manchen ist das anders, sie sind in der Lage dazu. Warum?«
»Keine Ahnung.«
»Sie müssen doch eine Ahnung haben, warum.«
»Nein, wirklich nicht.«
»Aber Sie sprechen mit Mördern, Sie treffen sich mit ihnen. Was sagen die dazu?«
»Die meisten von ihnen reden nicht viel.«
»Haben Sie jemals nachgefragt? Nicht, warum sie die Tat begangen haben, sondern wieso sie dazu überhaupt in der Lage waren?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil sie darauf nicht antworten würden. Ihre Anwälte würden sie nicht antworten lassen.«
»Anwälte!« Er schüttelte den Kopf.
»Und dann würden die meisten von ihnen ohnehin nicht wissen, was sie darauf antworten sollen. Diese philosophisch veranlagten Mörder – mit Chianti, Favabohnen und diesem Unsinn –, das ist alles dummes Zeug. So was gibt’s nur im Film. Diese Typen sind völlig durchgeknallt. Wenn man sie wirklich zu
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