Verschwiegen: Thriller (German Edition)
Verlass?«
»Genau so ist es.«
Dr. Vogel hörte schweigend zu. Selbstverständlich war sie über meine Familiengeschichte informiert. Das war der Grund, warum wir sie angeheuert hatten, diese Expertin für bösartige Gene. Aber das ganze Thema machte mich verlegen, und so schwieg ich beschämt.
»Stimmt es, dass sich Jacobs Verhalten mit zunehmendem Alter besserte, Laurie?«, fragte die Psychiaterin.
»In mancherlei Hinsicht schon. Es wurde definitiv besser. Wenn er in der Nähe war, verletzten sich keine Kinder mehr. Aber er verstieß immer noch gegen Regeln.«
»Zum Beispiel?«
»Er stahl. Er hat während seiner ganzen Kindheit gestohlen, in Supermärkten, im Laden um die Ecke, sogar in der Bibliothek. Er bestahl auch mich, er griff einfach in meine Geldbörse. Als er noch klein war, habe ich ihn ein paarmal in Geschäften beim Klauen erwischt. Ich redete mit ihm, aber umsonst. Was sollte ich tun? Ihn in Handschellen legen?«
»Das ist absolut unfair, du bist deinem Sohn gegenüber nicht fair!«, protestierte ich.
»Warum? Ich sage nur die Wahrheit.«
»Nein, du bist nicht ehrlich, was deine eigenen Gefühle angeht. Jacob steckt in Schwierigkeiten, und du fühlst dich irgendwie dafür verantwortlich. Und deshalb fallen dir in seinem Leben mit einem Mal Dinge auf, die vorher nicht existierten. Also, wirklich: Er hat was aus deiner Geldbörse genommen? Und? Wie du ihn hier beschreibst, hat nichts mit der Realität zu tun. Wir sind hier, um über Jacobs Anklage zu sprechen.«
»Ja, und?«
»Und was hat Klauen mit Mord zu tun? Was macht das schon, ob er aus dem Laden um die Ecke einen Lutscher oder einen Stift geklaut hat? Was zum Teufel hat das alles mit dem brutalen Mord an Ben Rifkin zu tun? Du wirfst alles in einen Topf, so als ob blutiger Mord und Klauen das Gleiche wären. Das sind sie nicht.«
»Ich glaube, was Laurie hier gerade beschrieben hat, ist die Tendenz, Regeln zu brechen. Laut ihrer Schilderung gelingt es Jacob nicht, Verhaltensregeln zu akzeptieren, aus welchem Grund auch immer«, warf Dr. Vogel ein.
»Nein, was sie beschreibt, ist ein Soziopath.«
»Nein.«
»Was Sie beschreiben, ist – «
»Nein.«
»– ein Soziopath. Wollen Sie behaupten, Jacob sei ein Soziopath?«
»Nein.« Dr. Vogel hob abwehrend die Hände. »Das habe ich nicht behauptet, Andy. Ich habe dieses Wort nicht einmal in den Mund genommen. Ich versuche nur, mir einen Gesamteindruck von Jacob zu verschaffen. Ich habe noch keinerlei Schlüsse gezogen. Ich bin noch völlig unvoreingenommen.«
»Ich glaube, Jacob hat Probleme. Er braucht unter Umständen Hilfe«, sagte Laurie mit großem Ernst.
Ich schüttelte den Kopf.
»Andy, er ist unser Sohn. Es ist unsere Verantwortung, dass wir uns um ihn kümmern.«
»Das versuche ich gerade.«
Lauries Augen glitzerten, aber es kamen keine Tränen. Sie hatte schon genug geweint. Das war es also, was sie die ganze Zeit über mit sich herumgetragen und überlegt hatte, und am Ende war sie zu diesem furchtbaren Schluss gelangt: Ich glaube, Jacob hat Probleme .
»Laurie, haben Sie Zweifel an Jacobs Unschuld?«, wandte sich Dr. Vogel mit verräterischem Mitgefühl an Laurie.
Laurie trocknete sich die Augen und setzte sich mit steifem Rücken aufrecht hin: »Nein.«
»Es kling ein wenig so.«
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja. Dazu ist er nicht in der Lage. Eine Mutter kennt ihr Kind. Jacob wäre dazu nicht in der Lage.«
Die Psychiaterin nickte und ließ die Aussage so stehen, obwohl sie nicht davon überzeugt war. Sie war nicht einmal davon überzeugt, dass Laurie davon überzeugt war.
»Darf ich Sie etwas fragen, Frau Doktor? Glauben Sie, ich habe Fehler gemacht? Hätte mir an seinem Verhalten etwas auffallen müssen? Hätte eine bessere Mutter als ich eingegriffen?«
Die Ärztin zögerte einen Augenblick lang. Über ihr hingen die beiden afrikanischen Masken mit johlenden Mündern. »Nein, Laurie, ich glaube nicht, dass Sie etwas falsch gemacht haben. Ich finde, Sie sollten sich nicht weiter quälen. Ich kann nicht erkennen, wie Sie als Eltern Verhaltensauffälligkeiten hätten wahrnehmen sollen und wie Sie hätten sehen können, dass Jacob in Schwierigkeiten steckte. Viele Kinder benehmen sich in diesem Alter genau wie Jacob, und am Ende hat das Ganze keine Bedeutung.«
»Ich habe getan, was ich konnte.«
»Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Laurie. Quälen Sie sich nicht. Andy hat recht: Ihre Beschreibungen decken sich mit dem, was jede Mutter für ihr Kind tun
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