Verschwiegen: Thriller (German Edition)
einigen Stühlen und niedrigen Tischen gab es nur wenig Mobiliar. An der Wand hingen afrikanische Masken.
Dr. Vogel war eine imposante Erscheinung. Nicht schwabbelig, im Gegenteil, sie hatte nichts von der blassen Weichlichkeit einer Akademikerin, obgleich sie das war. (Sie lehrte und forschte an der Harvard Medical School und am McLean). Sie war vielmehr breitschultrig, hatte einen großen, kantigen Kopf, der aussah wie geschnitzt, einen olivfarbenen Teint, und obwohl es erst Mai war, war sie bereits sehr braun. Ihr fast vollständig ergrautes Haar trug sie kurz geschnitten. Kein Make-up. An einem ihrer braunen Ohrläppchen steckten drei kleine Diamanten. Ich stellte mir vor, wie sie an Wochenenden sonnenverbrannte Berghänge hinaufradelte oder sich durch die Wellen vor Truro kämpfte. Sie war imposant, auch was ihre professionelle Kompetenz betraf, eine Kapazität, und das wurde auch in ihrer äußeren Erscheinung deutlich. Mir war unklar, warum eine solche Frau sich die ruhige und geduldheischende Arbeit der Psychiatrie ausgesucht hatte. Ihre Umgangsformen machten klar, dass sie für Geschwafel, und sie hatte derlei vermutlich schon recht oft zuhören müssen, keinerlei Geduld hatte. Sie saß nicht einfach nur da und nickte, wie das Psychiater üblicherweise machen, sondern beugte sich vor und neigte ihren Kopf, wie um besser zu verstehen und so, als ob sie an einem offenen Wort und der Wahrheit interessiert wäre.
Laurie sprach offen und ohne Zurückhaltung. Sie fühlte sich dieser bodenständig wirkenden Frau verbunden, der Expertin, die Jacobs Probleme erläutern würde. Als ob sie auf unserer Seite stünde. Laurie versuchte aus Dr. Vogels langjähriger Erfahrung Nutzen zu ziehen. Sie fragte die Ärztin aus: Wie konnte man Jacob besser verstehen? Wie ihm helfen? Laurie fehlte es an den entsprechenden Begriffen und dem Wissen. Das alles wollte sie von Dr. Vogel erfahren. Sie war sich nicht im Klaren darüber, oder vielleicht war es ihr auch nur einfach egal, dass Dr. Vogel auch von ihr vieles erfuhr. Ich werfe Laurie nichts vor. Sie liebte ihren Sohn, und sie glaubte an die Psychiatrie, an die Kraft des Gedankenaustauschs. Und dann war sie natürlich auch am Boden zerstört. Die Wochen, in denen sie mit der Anklage gegen Jacob gelebt hatte, waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie war für Dr. Vogels offenes Ohr mehr als empfänglich. Aber trotzdem konnte ich nicht einfach nur so dasitzen und alles an mir vorbeiziehen lassen. Laurie war derart entschlossen, Jacob zu helfen, dass sie ihn fast ans Messer lieferte.
Bei unserer ersten Sitzung mit der Psychiaterin machte Laurie folgendes erstaunliche Geständnis: »Als Jacob noch ein Baby war, konnte ich an seinem Geschrei hören, wenn er in seiner Schreckenslaune war. Ich weiß, das klingt furchtbar, aber es ist die Wahrheit. Er kam dann auf allen vieren den Flur heruntergestürmt, und ich wusste schon …«
»Was wussten Sie?«
»Ich wusste, dass ich keine Chance hatte. Er drehte völlig durch, warf Sachen herum und brüllte, was das Zeug hielt. Man konnte ihn nicht beruhigen. Ich packte ihn dann einfach in sein Kinderbettchen oder seinen Laufstall und entfernte mich. Ich ließ ihn einfach schreien und herumstrampeln, bis er sich beruhigt hatte.«
»Aber schreien und strampeln nicht alle Kleinkinder, Laurie?«
»Nicht wie er, nein.«
»Das ist völlig lächerlich, er war ein Kleinkind. Die schreien nun mal«, warf ich ein.
»Andy, lassen Sie Laurie ausreden«, erwiderte die Ärztin überfreundlich. »Sie kommen später dran. Machen Sie weiter, Laurie.«
»Genau, mach weiter, Laurie, erzähl ihr, wie Jacob Fliegen die Beine ausgerissen hat.«
»Sie müssen ihm das nachsehen, Frau Doktor. Er glaubt nicht an einen offenen Erfahrungsaustausch über private Angelegenheiten.«
»Das stimmt nicht. Ich glaube schon daran.«
»Und warum machst du es dann niemals?«
»Mir fehlt die Begabung.«
»Zum Reden?«
»Zum Jammern.«
»Das hier nennt man reden, Andy, nicht jammern. Und es ist eine Fähigkeit, keine Begabung. Wenn du willst, kannst du sie erlernen. Vor Gericht kannst du stundenlang reden.«
»Das ist etwas anderes.«
»Weil ein Anwalt nicht ehrlich sein muss?«
»Nein, weil das einfach eine andere Situation ist, Laurie. Alles hat seine Zeit und seinen Ort.«
»Wir befinden uns gerade im Büro einer Psychiaterin, Andy. Wenn das nicht der richtige Ort und die richtige Zeit ist …«
»Ja, aber wir sind wegen Jacob hier und nicht wegen uns.
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