Verschwiegen: Thriller (German Edition)
nach irgendwelchen Spuren von Gewalt durchforstet.
Doch ich schwieg. Es war ohnehin nicht zu ändern. Gegen den Namen Barber kam man nicht an.
»Vielleicht sollten wir an dieser Stelle aufhören«, schlug Dr. Vogel vorsichtig vor. »Wahrscheinlich hat es nicht mehr viel Sinn weiterzumachen. Das ist für keinen von Ihnen einfach, klar. Aber wir haben einige Fortschritte gemacht. Wir können es nächste Woche weiter versuchen.«
Ich wich Lauries Blick aus. Ich fühlte Scham, weshalb, wusste ich nicht genau.
»Ich möchte Ihnen noch eine letzte Frage stellen. Vielleicht können wir die Begegnung mit einem freundlichen Ausblick abschließen. Stellen Sie sich vor, dass der Fall in wenigen Monaten zu den Akten gelegt wird und Jacob wieder frei ist, zu tun und zu lassen, was er will. So, als ob es diese Anklage niemals gegeben hätte. Keine Beschreibungen, kein übler Nachgeschmack, nichts von alldem. Also, wenn das so wäre, wo würden Sie Ihren Sohn in zehn Jahren sehen, Laurie?«
»Oje. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Im Augenblick lebe ich von einem Tag zum anderen. Zehn Jahre, das kann man sich … schwer vorstellen.«
»Gut, das verstehe ich. Versuchen Sie es trotzdem, als Gedankenübung. Wo sehen Sie Ihren Sohn in zehn Jahren?«
Laurie überlegte. Sie schüttelte den Kopf. »Ich schaff’s nicht. Ich will nicht darüber nachdenken. Ich kann mir einfach nichts Gutes vorstellen. Ich denke pausenlos über Jacobs Lage nach, Frau Doktor, und ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Geschichte ein gutes Ende findet. Armer Jacob! Wissen Sie, ich kann nur hoffen. Das ist alles. Aber was ist, wenn er älter ist und wir nicht mehr da sind? Ich habe keine Ahnung, ich hoffe nur, es geht ihm dann gut.«
»Das ist alles?«
»Das ist alles.«
»Gut, und Sie, Andy? Wenn dieser Fall sich in Luft auflösen würde, wo würden Sie Ihren Sohn in zehn Jahren sehen?«
»Wenn er freigesprochen wird?«
»Genau.«
»Ich stelle ihn mir glücklich vor.«
»Glücklich? Gut.«
»Vielleicht mit einer Partnerin, einer Frau, die ihn glücklich macht. Vielleicht als Vater eines Sohnes.«
Laurie rutschte in ihrem Sessel.
»Er hat dann diesen ganzen Teenagermist hinter sich gelassen. Dieses ganze Selbstmitleid und den Narzissmus. Jacob hat eine Schwäche – er ist voller Selbstmitleid, er ist zu weich.«
»Wofür?«, hakte Dr. Vogel nach.
Laurie schaute mich über ihre Schulter hinweg neugierig an.
Wir alle hatten die Antwort in unseren Köpfen, sogar Dr. Vogel: Um ein richtiger Barber zu sein.
»Um erwachsen zu werden«, antwortete ich matt. »Um ein Mann zu werden.«
»So wie Sie?«
»Nein. Nicht wie ich. Jake muss seinen eigenen Weg finden. Das ist mir bewusst. Ich bin nicht einer von diesen Übervätern.«
Ich zog mich zusammen, als ob ich mich durch eine enge Röhre quetschen müsste.
»Jacob verfügt nicht über die Disziplin, die Sie als Kind hatten?«
»Genau.«
»Warum spielt das eine Rolle, Andy? Warum darf er nicht weich sein?«
Die beiden Frauen warfen sich einen Blick zu, es war nur ein ganz kurzer Austausch. Sie musterten mich und beurteilten mich einvernehmlich mit Lauries Worten als unzuverlässig .
»Das Leben«, murmelte ich. »Jacob braucht Härte für das Leben. Genau wie jeder andere Junge.«
Laurie beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf ihre Knie und nahm meine Hand.
Dreizehntes Kapitel
179 Tage
Die Zeit nach Jacobs Festnahme nahm eine unerträgliche Dringlichkeit an, eine permanente dumpfe Anspannung setzte ein. In mancher Hinsicht waren die Wochen danach schlimmer als das Ereignis selbst. Wir zählten die Tage. Jacobs Verhandlung war für den 17. Oktober angesetzt, und dieses Datum wurde für uns eine Obsession. Es war, als hätte unsere Zukunft, die wir wie jedermann so lang eingeschätzt hatten wie den Rest unseres Lebens, mit einem Mal ein festgelegtes Ende. Wir konnte uns nicht mehr vorstellen, wie es nach dem Verfahren weitergehen würde. Alles, das gesamte Universum, endete mit dem 17. Oktober. Bis dahin konnten wir nur noch die vor uns liegenden 179 Tage zählen. Als ich so lebte wie Sie und mein Leben ohne große Zwischenfälle verlief, hätte ich mir das nicht vorstellen können: dass die großen Ereignisse im Leben leichter zu ertragen sind als die Zeit dazwischen, diese ganze ereignislose Zeit, das Warten. Das Drama von Jacobs Festnahme, seine Anklage vor Gericht und alles, was damit verbunden war – ja, das war alles schlimm, aber es ging vorüber und wurde zu
Weitere Kostenlose Bücher