Verschwiegen: Thriller (German Edition)
das sich nicht durch ein paar freundliche Worte lösen ließe. Außerdem war sie allen Ernstes davon überzeugt, dass es sich hier um geteiltes Unglück handelte. Auch unsere Familie litt, und es war nicht leicht, mit anzusehen, wie der eigene Sohn unter einem falschen Mordverdacht stand, der sein junges Leben ruinierte. Die Tragödie von Ben Rikfins Tod schmälerte Jakes Tragödie als Opfer einer Anklage um nichts. Ich glaube nicht, dass Laurie etwas Derartiges zum Ausdruck bringen wollte. Dazu war sie zu taktvoll. Ich glaube, sie wollte nur ihr Beileid bekunden, und mit einem banalen Satz wie »Es tut mir so leid, dass ihr euren Sohn verloren habt«, einen Kontakt herstellen.
»Ich …«, hub Laurie an.
»Laurie«, unterbrach ich sie, »geh zu Jacob ins Auto und warte dort. Ich bezahl nur noch schnell.«
Es kam mir nicht einmal in den Sinn, einfach zu gehen. Wir hatten ein Recht darauf, hier zu sein, und wir hatten zweifellos ein Recht darauf, zu essen.
Laurie ging an mir vorbei auf Joan zu. Ich machte einen halbherzigen Versuch, sie davon abzuhalten, aber es ist vergebens, meine Frau von Entscheidungen abbringen zu wollen. Sie war stur wie ein Esel. Sie war eine freundliche, mitfühlende, brillante, einfühlsame und wunderbare Frau, aber stur wie ein Esel.
Sie trat vor die beiden hin und streckte ihnen ihre Hände mit den Handflächen nach oben entgegen, so als wollte sie Joans Hände ergreifen oder ihnen bedeuten, dass ihr die richtigen Worte fehlten oder dass sie wehrlos war.
Joan verschränkte daraufhin ihre Arme vor der Brust.
Dan erhob leicht einen Arm. Es sah aus, als wollte er sich darauf vorbereiten, einen möglichen Angriff von Lauries Seite abzuwehren.
»Joan …«, begann Laurie.
Joan spuckte ihr ins Gesicht. Unvermittelt, sie sammelte vorher nicht einmal Spucke in ihrem Mund, und so war es nicht viel. Es ging um die Geste, die sie vielleicht in dieser Situation für die einzig richtige hielt. Aber was war da schon richtig?
Laurie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und wischte sich mit den Fingern die Spucke ab.
»Ihr Mörder«, sagte Joan dann.
Ich ging zu Laurie und legte ihr von hinten eine Hand auf die Schulter. Sie stand stocksteif da.
Joan sah mich hasserfüllt an. Wäre sie ein Mann gewesen oder aus einer anderen sozialen Schicht, wäre sie vielleicht auf mich losgegangen. Sie bebte vor Hass. Ich empfand keinen Hass, ich empfand keine Wut, nur Trauer, Trauer ums uns alle.
»Sorry«, sagte ich zu Dan, so als ob es keinen Sinn hätte, mit Joan zu reden, und als ob es an uns Männern wäre, mit Gefühlen angemessen umzugehen, ganz im Gegensatz zu unseren Frauen.
Ich nahm Laurie bei der Hand und führte sie betont höflich und mich nach allen Seiten entschuldigend aus dem Laden. Wir drängelten uns durch Kunden und Einkaufswagen hindurch, bis wir draußen auf dem Parkplatz standen, wo niemand uns kannte. In den letzten Wochen vor dem Verfahren, der endgültigen Katastrophe, waren wir hier wieder fast eine Familie von vielen.
»Wir haben unsere Sachen nicht mitgenommen«, meinte Laurie.
»Das spielt keine Rolle. Wir brauchen sie nicht.«
Einundzwanzigstes Kapitel
Man hüte sich vor dem Zorn des Langmütigen
Verteidiger sehen im Menschen das Gute, sie stehen sozusagen auf der Sonnenseite. Selbst bei ausgesprochen brutalen und unverständlichen Verbrechen vergisst der Verteidiger niemals, dass sein Mandant ein Mensch ist wie Sie und ich. Und genau deshalb hat er einen Anspruch auf Verteidigung. Wie viele Male hat mir ein Anwalt schon versichert, dass jemand, der ein Kleinkind misshandelt oder seine Frau verprügelt hat, im Grunde trotzdem ein ganz netter Kerl sei. Sogar die Staranwälte mit ihren dicken Rolexuhren und Aktentaschen aus Krokodilleder hängen dieser humanistischen Illusion an: Jeder Verbrecher ist auch ein Mensch, ein komplexes Wesen aus guten und bösen Eigenschaften, das ein Recht auf unser Mitgefühl und unsere Gnade hat. Polizisten und Staatsanwälte richten ihren Blick eher auf die Schattenseiten der menschlichen Natur. Wir erkennen selbst bei unbescholtenen Menschen sofort den Makel, das Böse, die verborgene kriminelle Energie. Unsere Erfahrung lehrt uns, dass der nette Nachbar von nebenan im Zweifelsfall zu allem in der Lage ist. Der Priester kann ein Pädophiler sein, der Polizist ein Betrüger, der liebende Ehemann und Vater hütet vielleicht ein schmutziges Geheimnis. Und wir sind von den menschlichen Schattenseiten aus genau dem gleichen Grund überzeugt
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