Verschwiegen: Thriller (German Edition)
wie die Anwälte von den Sonnenseiten: Wir sind alle nun einmal nur Menschen.
Je länger ich Leonard Patz beobachtete, desto mehr war ich überzeugt, dass er der Mörder von Ben Rifkin war. Ich folgte ihm auf seiner morgendlichen Runde, von Dunkin’ Donuts zu seinem Arbeitsplatz bei Staples, und wieder nach Hause. In seiner Arbeitskleidung sah er lächerlich aus. Sein rotes Polohemd war viel zu eng für seinen schwabbeligen Oberkörper, und die Khakihosen betonten seinen Bauch. Ich wagte nicht nachzusehen, was sie Patz in dem Laden verkaufen ließen, Elektronikgeräte wahrscheinlich, oder Computer und Mobiltelefone, er war genau der Typ dafür. Selbstverständlich ist es das Privileg des Staatsanwalts, sich auf seinen Angeklagten festzulegen, aber ich begriff, ehrlich gesagt, nicht, warum Logiudice Jacob vor diesem Typen den Vorzug gab. Vielleicht liegt es an meinem Wunschdenken als Vater oder an Logiudices Zynismus, aber ich verstehe es bis heute nicht.
Im August war ich Patz bereits seit Wochen auf den Fersen, von morgens bis abends, an Wochentagen wie an Wochenenden. Die Informationen von Matt Magrath waren sicher richtig, aber einer Überprüfung vor Gericht würden sie nicht standhalten. Keine Jury der Welt würde sich auf sein Wort verlassen. Ich brauchte knallharte Beweise, etwas, das sich nicht allein auf die Aussage dieses unzuverlässigen Teenagers stützte. Ich weiß nicht genau, was ich mir von meiner Beschattungsaktion versprach. Einen Fehler. Die Rückkehr an den Tatort, eine nächtliche Fahrt, um belastendes Material loszuwerden. Irgendwas.
Um ehrlich zu sein, Patz benahm sich nicht verdächtig. Eigentlich unternahm er so gut wie gar nichts. In seiner Freizeit begnügte er sich damit, in irgendwelchen Läden oder in seiner Wohnung am Cold Spring Park herumzuhängen. Seine Mahlzeiten nahm er gerne bei McDonald’s an der Soldiers Field Road in Brighton ein, wo er die Bestellungen im Drive-Thru aufgab und anschließend in seinem pflaumenfarbenen Auto saß, aß und dabei Radio hörte. Einmal ging er alleine ins Kino. Nichts, was er tat, war irgendwie auffällig. Aber meine Überzeugung, dass Patz der richtige Mann war, war durch nichts zu erschüttern. Die ungeheuerliche Möglichkeit, dass mein Sohn geopfert würde und dieser Mann auf freiem Fuß blieb, wurde zu einer Obsession. Je länger ich ihm überallhin folgte und ihn mit dieser fixen Idee im Kopf beobachtete, desto wirrer wurde ich. Die Eintönigkeit seines Alltags zerstreute meinen Verdacht nicht, sondern machte mich nur noch verbissener. Wie ich es sah, hielt er sich versteckt, lag im Hinterhalt und wartete darauf, dass Logiudice ihm die Arbeit abnahm.
An einem schwülen Augustabend folgte ich Patz, als er im Auto durch Newton Centre – Geschäfte mit Grünanlagen und einer großen Verkehrskreuzung – nach Hause fuhr. Es war fünf Uhr nachmittags und immer noch sonnig. Der Verkehr floss leichter als sonst (im August ist die Stadt fast menschenleer), war aber immer noch dicht. Die meisten Autofahrer hatten ihre Fenster wegen der Hitze fest geschlossen, und nur wenige, mich und Patz eingeschlossen, hatten sie offen und ließen ihre Ellbogen nach außen hängen, um sich ein wenig abzukühlen. Sogar die Kunden auf dem Gehsteig vor der Eisdiele J. P. Licks sahen erschöpft und abgekämpft aus.
Vor einer roten Ampel hielt ich direkt hinter Patz an. Ich hielt das Lenkrad umklammert.
Die Rücklichter von Patz’ Wagen leuchteten auf, und sein Auto machte einen kleinen Satz vorwärts.
Ich nahm meinen Fuß von der Bremse. Ich weiß nicht, warum ich das tat, und ich war nicht sicher, wie weit ich gehen wollte. Aber zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich heiter, während mein Wagen nach vorne rollte und mit einem satten Poing gegen seine Stoßstange prallte.
Er sah in den Rückspiegel und hob die Hände. Was war denn das?
Ich zuckte mit den Schultern, setzte den Wagen kurz zurück und fuhr noch einmal gegen seine Stoßstange. Poing .
Ich sah, wie seine Silhouette entgeistert die Hände hob. Er parkte, öffnete die Autotür und hievte sich aus dem Wagen.
Und ich wurde ein anderer. Ich handelte und bewegte mich mit einer Natürlichkeit und Anmut, die ungewohnt aufregend und ungestüm waren.
Noch ehe ich mir dessen bewusst war und im Kopf die Entscheidung getroffen hatte, auf ihn loszugehen, war ich schon aus meinem Wagen ausgestiegen und marschierte auf ihn zu.
Er hob die Hände vor die Brust, mit den Handflächen nach außen und sah
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