Verschwiegen: Thriller (German Edition)
brachte mich zu der Seite, auf der Jacobs Lieblingsstorys gespeichert waren. Ganz oben auf der Liste war eine Geschichte mit dem Titel »Ein Spaziergang im Wald« vom 19. April, das heißt, von vor drei Monaten. Die Felder für den Autorennamen und den Uploader waren leer.
Es begann: »An jenem Morgen nahm Jason Fears ein Messer mit in den Wald, denn er war der Meinung, er würde es brauchen. Er hielt es in der Tasche seines Sweatshirts versteckt, und beim Gehen legte er seine Finger um den Griff. Das Messer in seiner Faust sandte Energie durch seinen Arm hinauf bis zur Schulter und von dort bis in sein Gehirn, sie strahlte bis in seinen Solarplexus wie ein Feuerwerk am Himmel.«
Die Geschichte ging ähnlich langatmig und düster weiter. Es war ein reißerischer und ziemlich unverhüllter Bericht über den Mord an Ben Rifkin im Cold Spring Park. Der Park hieß jetzt »Rock River Park« und Newton »Brooktown«, und aus Ben Rifkin wurde ein übler Mobber namens Brent Mallis.
Ich nahm an, Jacob habe die Geschichte verfasst, aber hundertprozentig sicher konnte man nicht sein. Die Geschichte lieferte keinerlei Anhaltspunkte zur Identität des Autors. Der Stil war der eines Teenagers; Jacob las viel und hatte genug von den Cutting-Room-Geschichten gelesen, um mit dem Genre vertraut zu sein. Der Autor musste den Cold Spring Park gut kennen, denn der Park wurde recht zutreffend beschrieben. Doch wusste ich jetzt lediglich, dass Jacob die Geschichte gelesen hatte – und das bewies am Ende gar nichts.
Und so arbeitete ich weiter daran, die Beweise mit meinem juristischen Handwerkszeug weg- und kleinzureden. Und Jacob zu verteidigen.
Die Geschichte las sich nicht wie ein Geständnis. Es gab keine Informationen, die nicht vorher schon öffentlich zugänglich gewesen wären. Man hätte sie mithilfe von Zeitungsausschnitten und einer lebhaften Fantasie schreiben können. Sogar das furchtbarste Detail, als Ben – oder »Brent Mallis« – ausrief: »Hör auf, du tust mir weh«, war durch alle Zeitungen gegangen. Und was den Rest anging – was davon traf zu? Nicht einmal die Ermittler konnten wissen, ob Ben Rifkin wirklich gesagt hatte: »Hallo, Schwuler«, wie jener fiktive Brent Mallis zu Jason Fears, als er an jenem Morgen seinem Mörder im Wald begegnete. Oder ob das Messer wirklich auf keinerlei Widerstand traf, als es in die Brust fuhr, keinen Knochen, keinen Hautwiderstand oder weiche Organe, »so als ob er es in Luft stoßen würde«. Für alle dieses Details gab es keine Zeugen, und sie blieben unbestätigt.
Jacob musste sich im Klaren sein, wie idiotisch es war, derlei Mist zu verzapfen, ob er nun schuldig war oder nicht. Er hatte zwar das Psycho -Foto in Facebook gestellt, aber so weit würde er doch nicht gehen?
Selbst wenn er es geschrieben oder es auch nur gelesen hatte, was bewies das schon? Es wäre dumm, aber Kids machten Dummheiten. Der Verstand eines Teenagers steht in einem ständigen Widerstreit zwischen dumm und clever. Und hier hatte die Dummheit gesiegt. Wenn man bedachte, welchem Druck Jake ausgesetzt war und dass er seit Monaten wie unter Hausarrest stand und jetzt, mit dem Herannahen des Verfahrens, das öffentliche Interesse zunahm, war eine solche Entgleisung verständlich. Konnte man ihn wirklich für jede geschmacklose, taktlose und hirnlose Bemerkung verantwortlich machen? Welcher Junge würde in einer ähnlichen Situation nicht genauso die Nerven verlieren? Und wer von uns würde sich schon gerne nach der größten Dummheit aus seiner Teenagerzeit beurteilen lassen?
Das alles redete ich mir ein und sammelte Argumente, wie ich es gelernt hatte, aber der Schrei dieses Jungen, »hör auf, du tust mir weh«, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Und etwas in mir brach sich Bahn. Ich weiß nicht, wie ich dieses Gefühl sonst beschreiben soll. Immer noch ließ ich keinerlei Zweifel zu, und immer noch glaubte ich an Jacob – und ich liebte ihn auch immer noch. Und es gab ja auch keine eindeutigen Beweise für seine Tat. Der Anwalt in mir wusste das alles. Doch der Vater in mir war tief verletzt. Ein Gefühl ist ein Gedanke, eine Vorstellung, aber auch eine körperliche Empfindung, ein Schmerz. Lust, Liebe, Hass, Angst, Ekel – diese Gefühle gehen mit physischen Eindrücken einher. Und in dem Moment, als mir das Herz brach, hatte ich den Eindruck einer Verletzung in meinem tiefsten Inneren, einer Wunde, aus der fortan Blut sickern würde.
Ich las die Geschichte noch einmal und löschte sie dann
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